Ein transparentes, sach- und realitätsgerechtes Existenzminimum
Maßgeblich für die Existenzsicherung von Hilfesuchenden ist ihr materieller Bedarf, der unabhängig davon besteht, ob Menschen in anderen Handlungsbereichen Vorgaben erfüllen.
Was Menschen zum Leben brauchen, muss methodisch sauber ermittelt werden. Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass die Ermittlung des Existenzminimums transparent, sachgerecht und realitätsgerecht erfolgen muss.
Dies ist durch die bisherige Form der Regelsatzermittlung nicht der Fall. Zwar werden mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe Daten über die Ausgaben einer statistischen Vergleichsgruppe mit niedrigem Einkommen erhoben. Hierbei kommt es aber zu Zirkelschlüssen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Sozialleistungsbeziehende oder –berechtigte selbst Teil der Vergleichsgruppe sind, deren Lebensstandard wiederum Maßstab für die Höhe von Sozialleistungen sein soll.
Auch kommt es nach Ermittlung der statistischen Daten zu willkürlich erscheinenden Abzügen. Weihnachtsbaum, Speiseeis, Streamingdienste, Kinderzeitschriften oder Meerschweinchenfutter sind Beispiele für Streichungen im großen Umfang, die sich auf bis zu 160 Euro Abzüge an den Regelsätzen summieren.
Die Diakonie Deutschland hat mit der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker ein alternatives Modell der Regelsatzermittlung entwickelt. Demnach soll das Existenzminimum für grundlegende Konsumbereiche wie Nahrungsmittel nicht mehr als 25 Prozent, die weiteren Ausgaben um nicht mehr als 40 Prozent hinter dem zurückbleiben, was die gesellschaftliche Mitte ausgibt.
Die Regelsatzermittlung muss zwei Prinzipien folgen:
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Ermittlung einer statistischen Vergleichsgruppe mit mittleren Einkommen.
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Ermittlung einer statistischen Vergleichsgruppe mit unteren Einkommen – ohne Zirkelschlüsse und mit einer sicheren „Haltelinie“ nach unten, die nicht unterschritten werden darf.
Das Existenzminimum einfach und unbürokratisch gewährleisten
Das so ermittelte Existenzminimum soll durch eine „Existenzsicherungsstelle“ einfach und unbürokratisch gewährt werden. Maßstab dafür, ob jemand Hilfe erhält, ist allein die Bedürftigkeit.
Menschen im Erwerbsalter erhalten eine Grundsicherungsleistung, die ihr Existenzminimum ohne Sanktionen gewährleistet. Personen, die im jetzigen System Erwerbseinkommen mit Grundsicherungsleistungen aufstocken, erhalten die Möglichkeit, sich anstelle einer komplizierten Anspruchsermittlung mit möglichen Hin- und Rückrechnungen für das Modell der Sozialdividende zu entscheiden.
Bei der Sozialdividende wird zu Monatsanfang ein Existenzgeld zuverlässig und in immer gleicher Höhe gezahlt. Voraussetzung: Die Leistungsberechtigen stimmen einer Einstufung in eine neue Steuerklasse 7 zu. In der Steuerklasse 7 sind die Ansprüche auf Freibeträge mit dem zu Monatsanfang gezahlten Existenzgeld abgegolten. Einkommen wird dagegen relativ hoch besteuert.
Neben das verlässliche Existenzgeld können weitere Einkünfte treten, die entsprechend der gewählten Steuerklasse 7 progressiv ansteigend mit 65 bis 79 Prozent ab dem ersten Euro nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge besteuert werden. Dieser relativ hohe Steuersatz bleibt in seinen Auswirkungen aber weit hinter den Folgen der Einkommensanrechnung zurück, die derzeit in der Grundsicherung Standard ist. Das Modell der Sozialdividende bietet den wesentlichen Vorteil, dass keine Hin- und Rückrechnungen bei der Gewährleistung des Existenzminimums nötig sind.
Der Steuertarif steigt zudem so an, dass bei einem Einkommen von 1.400 Euro nach Sozialabgaben das Nettoeinkommen von Empfänger*innen der Sozialdividende genauso hoch ist wie das von Personen, die herkömmlich besteuert werden. Setzt sich dieser Effekt über mehrere Monate fort und erzielen die Betroffenen dauerhaft einen Betrag von 1.400 Euro Einkommen, benachrichtigt sie das Finanzamt, dass ein Wechsel in den normalen Steuertarif nun günstiger wäre.
Ergänzend zu den genannten pauschalen Leistungen bleibt die Möglichkeit erhalten, für größere Anschaffungen oder in besonderen Notlagen zusätzliche finanzielle Hilfen zu beantragen – etwa für die Anschaffung von Waschmaschine oder Kühlschrank, die Klassenfahrt, eine digitale Mindestausstattung oder medizinische Sonderbedarfe.
Existenzsicherung: Erfahrungen sammeln und bewerten
Die Diakonie Deutschland schlägt vor, die Effekte und die Wirkung der neuen Existenzsicherung zunächst auf freiwilliger Basis zu erproben. Leistungsberechtigte können sich entscheiden, ob sie das neue Modell der Existenzsicherung wählen oder aber im bisherigen System der Grundsicherung bleiben. Leistungsberechtigte, die die Sozialdividende wählen, erhalten zum Monatsersten ein pauschales Existenzgeld von insgesamt 1.100 Euro. Dieses setzt sich zusammen aus 600 Euro, die dem von der Diakonie Deutschland errechneten Regelsatz entsprechen und einem Wohngeld von 500 Euro. Die Leistungsberechtigten können sich entscheiden, nur dieses Existenzgeld – und keine weiteren Grundsicherungsleistungen wie besondere persönliche Bedarfe, Anschaffungskosten oder Wohngeld - in Anspruch zu nehmen. Wenn sie weitere ergänzende Hilfen beantragen sollten, erfolgt eine Bedarfsprüfung. Nach drei Jahren Modellversuch soll bundesweit wissenschaftlich Bilanz gezogen werden.
Das Rechenmodell, nach dem die Diakonie bei der Sozialdividende arbeitet, ist im PDF-Dokument (Seite 6) dargestellt.
Die Kosten für die vollständige Umsetzung dieses Modells betragen rund 80 Mrd. Euro jährlich, wenn alle Berechtigten in die Sozialdividende einbezogen werden. Der Betrag von 80 Mrd. Euro deckt die derzeitigen Grundsicherungskosten für Erwachsene in Höhe von 18 Mrd. Euro bereits mit ab. Somit entstehen Nettokosten in Höhe von 61,2 Mrd. Euro jährlich. Diese Kosten ergeben sich zum einen durch den Einbezug der derzeit 4 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II. Zum anderen weitet die Diakonie den Kreis der Leistungsberechtigten durch die von ihr vorgeschlagene Erhöhung des Existenzminimums um rund 2 Millionen Personen aus. Weitere Kosten entstehen durch die im Rahmen der Sozialdividende verminderte Einkommensanrechnung, die Anreize zur Arbeitsaufnahme setzt. Die Kosten können zum Teil durch höhere Steuereinnahmen als Folge des erhöhten Steuersatzes für Einkommen im Rahmen der Sozialdividende aufgefangen werden.
Die Kosten für die projekthafte Erprobung des Modells beispielsweise bei Personen, die derzeit Erwerbseinkommen mit Grundsicherungsleistungen aufstocken (1 Mio. Menschen), lägen bei rund 10 Mrd. Euro jährlich. Würden diese Arbeitnehmer*innen durchschnittlich 300 Euro im Monat hinzuverdienen, erzielte der Staat Steuermehreinnahmen in Höhe von 2,5 Mrd. Euro als Gegenfinanzierung durch den erhöhten Steuersatz im Rahmen der Sozialdividende.