03.11.2023

Gemeinsamer Appell: Perspektiven für geflüchtete Kinder schaffen!

Appell der unterzeichnenden Organisationen und Stiftungen an Bund, Länder und Kommunen anlässlich des Flüchtlingsgipfels am 6. November 2023

Das Thema Zuwanderung bewegt derzeit die Politik in Deutschland. Die Änderung von Gesetzen und weitere Maßnahmen sind im Gespräch, um die Zahl der Asylsuchenden zu reduzieren und Kommunen zu entlasten, aber auch, um den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Bundeskanzler Olaf Scholz hat deshalb für den 6. November 2023 die Bundesländer zu einem Flüchtlingsgipfel eingeladen, bei dem über die Verteilung von Aufgaben und deren Finanzierung entschieden werden soll.

Dabei wird in der Debatte nicht genügend berücksichtigt, dass etwa ein Drittel der nach Deutschland geflüchteten Menschen unter 18 Jahre alt ist und damit unter die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention fällt. Der Flüchtlingsgipfel bietet eine Chance, die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen für die Aufnahme von schutzsuchenden Kindern mit ihren Familien und von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten neu zu gestalten. Bei diesem Austausch sollten künftig auch zivilgesellschaftliche Organisationen zu Rate gezogen und gehört werden.

Kinder brauchen eine verlässliche Lebensperspektive, ungeachtet ihres Herkunftslandes und Aufenthaltsstatus. Während die politische Debatte droht, auf Abschottung und Abschiebungen verengt zu werden und Fragen der besseren Integration eine untergeordnete Rolle spielen, leben sowohl begleitete Kinder in Sammelunterkünften als auch unbegleitete Kinder in Obhut der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe unter prekären Bedingungen mit begrenzten Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe. Eine kinderrechtsbasierte Unterbringung und Versorgung sind kaum gegeben.

Wir sind deshalb besorgt über die Situation von begleiteten und unbegleiteten geflüchteten Kindern.

Länder und Kommunen bauen angesichts eines erhöhten Zuzugs von schutzsuchenden Menschen immer wieder in kürzester Zeit Kapazitäten auf. Insbesondere die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe hat in den Jahren 2016 und 2017 das Inobhutnahmesystem massiv ausgebaut, um unbegleitete minderjährige Geflüchtete adäquat aufzunehmen und zu betreuen. Aktuell sehen sich Länder und Kommunen allerdings an der Belastungsgrenze.

In Anerkennung dieser politischen und gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen bekräftigen wir deshalb unseren Appell vom Mai 2023 an Bund, Länder und Kommunen, die Rechte von geflüchteten Kindern und Jugendlichen einzuhalten und fordern, diese zum Prüfstein aller in Diskussion stehenden politischen Lösungsvorschlägen zu machen. Das betrifft insbesondere die Unterbringung, den Zugang zur öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, den Zugang zu frühkindlicher Bildung und Regelschule sowie die Identifizierung von besonderen Schutzbedarfen und den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das übergeordnete Ziel aller politisch verantwortlichen Stellen muss darin bestehen, geflüchteten Kindern eine Perspektive auf eine normale Kindheit zu eröffnen.

Ausführungen zu den Forderungen

Dezentrale Unterbringung von geflüchteten Kindern ermöglichen

Das übergeordnete Ziel des staatlichen Handelns auf allen föderalen Ebenen sollte darin bestehen, Kinder mit ihren Familien schnellstmöglich dezentral, in Wohnungen, unterzubringen. Denn Unterkünfte für geflüchtete Menschen sind keine Orte für Kinder. Auch unter den besten Umständen werden Kinder dort strukturell in der Wahrnehmung ihrer Rechte eingeschränkt. Das betrifft nach der UN-Kinderrechtskonvention unter anderem ihre Rechte auf angemessene Lebensbedingungen, auf Schutz vor Gewalt, auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung, auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Kultur, auf Gehör und Berücksichtigung der Meinung und auf Gesundheit.

Um eine dezentrale Unterbringung zu erleichtern, sollte die Wohnverpflichtung in Aufnahmeeinrichtungen (nach § 47 AsylG) für Kinder und ihre Familien aufgehoben werden. Gleichzeitig sollte flächendeckend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, Familien frühzeitig aus der Aufnahmeeinrichtung zu entlassen (§ 49 Abs. 2 AsylG). Darüber hinaus sollte eine Ausnahme von der Wohnsitznahmeverpflichtung (gemäß § 12a AufenthG) eingeführt werden, wenn an einem anderen Ort eine Wohnung gefunden wurde.

Zugang zur öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe für begleitete und unbegleitete geflüchtete Kinder sicherstellen

Auch Kinder, die mit ihren Familien in Sammelunterkünften leben, haben einen Anspruch auf Leistungen der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Der Zugang muss daher auch für diese Kinder und ihre Familien sichergestellt werden.

Unbegleitete Minderjährige werden aktuell entgegen rechtlicher Regelungen auch in Sammelunterkünften untergebracht. Zudem halten sich viele von den Jugendämtern volljährig geschätzte junge Menschen in Sammelunterkünften auf, ohne Möglichkeit des effektiven Rechtsschutzes gegen eine nichtzutreffende Volljährigkeitsschätzung und ohne Prüfung ihrer Bedarfe als junge Volljährige.

Außerdem wurden vielerorts die Standards für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von unbegleiteten Minderjährigen abgesenkt. Durch Überlastung der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe und damit verbunden lange Wartezeiten auf Erstgespräche werden unbegleitete Minderjährige derzeit monatelang in Strukturen betreut, die dafür nicht vorgesehen sind, ohne Zugang zu ihren vollen Rechten: es gibt nur eine rechtliche Notvertretung, sie werden nicht in der Schule angemeldet, jugendhilferechtliche oder psychische Bedarfe werden nicht geprüft und es findet nur eine rudimentäre Betreuung statt.

Bei der Jugendhilfeplanung müssen Fluchtbewegungen und dadurch entstehende Kapazitätsengpässe und Bedarfe mitbedacht bzw. adressiert werden. Es braucht dafür eine nachhaltige Infrastruktur und geeignete Vorhaltekonzepte für Plätze in der Kinder- und Jugendhilfe auf kommunaler Ebene.

Zugang zu frühkindlicher Bildung und Regelschulen ermöglichen

Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht und stellt eine wesentliche Voraussetzung für die aktive Wahrnehmung anderer Rechte dar. Insbesondere in Aufnahmeeinrichtungen, aber auch in Gemeinschaftsunterkünften ist das Recht auf Bildung eingeschränkt. Das betrifft sowohl die Verfügbarkeit als auch die Zugänglichkeit von Bildung und umfasst sowohl die frühkindliche Förderung in Kindertageseinrichtungen und -pflege als auch Bildung in der Regelschule. Oftmals sind die Hürden für die faktische Wahrnehmung frühkindlicher Förderung zu hoch. Zudem kommt es zu monatelangen Wartezeiten, um einen Platz in der Regelschule zu erhalten.

Der Zugang zur Regelschule ist für geflüchtete Kinder unabhängig vom Herkunftsland, Aufenthaltsstatus oder Wohnort möglichst frühzeitig, spätestens jedoch nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland, sicherzustellen. Beschulungsangebote in Aufnahmeeinrichtungen ersetzen die Regelschule nicht und wirken exkludierend. Ersatzangebote in den Einrichtungen dürfen nur kurzfristige Übergangslösungen bleiben und müssen effektiv auf den Regelunterricht vorbereiten. Sie sollten altersdifferenziert und am Lernstand orientiert gestaltet sein sowie von staatlich anerkannten Lehrkräften durchgeführt werden.

Frühzeitige Identifizierung von besonderen Bedarfen und Zugang zu Gesundheitsversorgung sicherstellen

Laut europarechtlichen Vorgaben, aber auch zur Erfüllung der Vorgabe im Asylgesetz, “geeignete Maßnahmen” zum Schutz von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten zu treffen, braucht es eine frühzeitige Identifizierung von besonderen Bedarfen. Ein standardisiertes und bundesweit einheitliches Verfahren zur Identifizierung und Berücksichtigung von besonderen Bedarfen gibt es bislang nicht. Das führt dazu, dass gerade Bedarfe, die nicht äußerlich sichtbar sind, oft unerkannt bleiben. So finden beispielsweise förder- oder psychotherapeutische Behandlungserfordernisse häufig keine Berücksichtigung.

Für Kinder kann sich das sehr negativ auf ihre Entwicklung und ihre Teilhabe auswirken. Mobilitätseinschränkungen, psychische Erkrankungen, Sinnesbeeinträchtigungen und kognitive Einschränkungen können sich ohne Behandlung verschlimmern. Eine ausbleibende Frühförderung bei Kindern mit Behinderung kann ihre gesellschaftliche Teilhabe langfristig massiv erschweren.

Nach der frühzeitigen Identifizierung müssen geflüchtete Kinder mit besonderen Bedarfen schnellstmöglich einen diskriminierungsfreien Zugang zu den entsprechenden Regeldienstleistungen, wie unter anderem solchen des Gesundheitssystems und der Eingliederungshilfe, erhalten. Häufig ist bereits für den Identifizierungsprozess eine Leistungsgewährung im Gesundheitssystem notwendig. Sie kann aktuell jedoch aufgrund der Einschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz nicht sichergestellt werden.

Damit geflüchtete Kinder und ihre Familien über ihre Rechte informiert und bei deren Durchsetzung unterstützt werden können, müssen Fachberatungsstellen personell ausreichend gefördert werden, sodass sie auf die spezifischen Belange von Kindern und Jugendlichen eingehen können. In diesen Beratungsstellen ist Expertise in Bezug auf besondere Bedarfe (z.B. Behinderungen, psychische Erkrankungen, Gewalterfahrungen, Fragen zur sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität) und in Bezug auf behördliche Leistungsträger gebündelt und steht damit niedrigschwellig Ratsuchenden zur Verfügung.

Mehr Informationen

Diese Seite empfehlen