Migration im Wahlkampf krass überbewertet
Johannes Brandstäter
Schulen, Soziales und Infrastruktur wären als Streitthemen wichtiger
Die Fälle von Kriminalität und Gewalt wie in Aschaffenburg und Magdeburg, die mit Einwanderung in Verbindung gebracht werden, verursachen, unterstützt durch die Massenmedien, ein allgemeines Gefühl von Unsicherheit und Entrüstung. Die Taten sind allein unter dem Blickwinkel Migrationskontrolle nur sehr bedingt zu verstehen und zukünftige Taten nicht zu verhindern. Denn gegen unberechenbare Täter mit komplexen Motiven und offensichtlichen Persönlichkeitsstörungen lässt sich präventiv nur wenig ausrichten. Die Grenzen noch weiter dicht zu machen, als sie es schon sind, hilft nicht wirklich, zumal sich viele der Täter erst unter den Verhältnissen, die sie Jahre nach ihrer Einreise erleben, radikalisieren.
In unserer Rechtsordnung sind Ermittlungsbehörden und die Gerichte für Sanktionen und Bestrafungen zuständig, nicht das Aufenthaltsrecht. Diese müssen personell gestärkt und vielleicht auch besser organisiert werden.
Ausweisungen und Abschiebungen sind darüber hinaus rechtlich nur für eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Ausreisepflichtigen möglich. Wer diese rechtlichen Grenzen nicht versteht oder die Regeln radikal umbauen will, muss sich klar machen, dass davon unweigerlich auch die Menschen betroffen würden, die unser Land am Laufen halten: Pflegetätige, Busfahrer und -fahrerinnen, Laufburschen, die warmes Essen und sehnlich erwartete Pakete bis ins Dachgeschoss hochschleppen, Soldatinnen und Polizisten, und wenn man will sogar Fußballtalente. Migrantische Kriminalität, wenn sie denn überhaupt etwas mit der Herkunft zu tun hat, oder auch nur das vage Gefühl von Bedrohung durch Einwanderung, lässt sich nicht mit großformatiger Abschaffung von Asyl, Passentzug oder Rausschmiss bekämpfen. Wer das trotzdem verspricht und damit gewinnt, macht dem Wahlvolk etwas vor und stärkt noch extremere Ideen. Wer Migrationssteuerung zum Kriterium für die Wahlentscheidung macht, wird Enttäuschung ernten und sein Gemüt mit Politikverdrossenheit belasten, weil sie keine Stellschrauben für ein besseres Leben bietet.
Wieso? Covid und Kriegsgefahren haben das auch dank Einwanderung prosperierende Deutschland in Widersprüche geraten lassen. Die Einwanderung gleicht das Geburtendefizit und die Alterung der Gesellschaft bestens aus, schafft dabei aber Folgeprobleme, die immer deutlicher hervortreten. Unsere Dienstleistungsgesellschaft läuft dank Einwanderung mit einem Maximalaufgebot an Personal, verlangt sogar noch mehr Bedürfnisbefriedigung und benötigt dafür immer noch mehr Dienstleistende, wofür die Wirtschaft nach noch mehr Einwanderung schreit. Aber schon jetzt ist die Bevölkerung seit der Wende um fünf Millionen Menschen gewachsen, so dass die Wohnungen nicht reichen, die Straßen immer voller werden und die Kitas und Schulen überfordert sind.
Statt die Migration zur Mutter aller Probleme zu stilisieren, und völlig überzogene Erwartungen an Migrationspolitik zu schüren, sollte über die Fährnisse des Alltags gestritten werden: wie bewältigen wir die unbequemen Folgeerscheinungen der an sich nützlichen Einwanderung, die sich mit Reform- und Investitionsstau in vielen Bereichen paaren? Wie finanzieren wir mehr Personal für Kitas und Schulen, mit Griff in welche Töpfe modernisieren wir die Infrastruktur, mit welchen sozial gerechten Reformen erhalten wir unser leistungsfähiges Gesundheitssystem, aber auch: bei welchen Aufgaben soll es dagegen zu Einsparungen kommen? Ohne Ausbremsung der Schuldenbremse wird es nicht gehen, aber es braucht mehr: Welche der umfangreichen Paragrafenwerke im Aufenthaltsrecht und in allen anderen Rechtsbereichen können vereinfacht werden, damit es nicht 15 Jahre dauert, bis eine stillgelegte Bahnlinie wieder in Betrieb genommen wird, oder damit ein Betrieb nicht im Verwaltungsaufwand erstickt, der Schutzsuchenden eine Ausbildung ermöglichen will?
Die Vereinfachung und Beschneidung von Aufgaben sind neben der Entweihung der Schuldenbremse das eigentlich Notwendige und Entscheidende. Wo und wie soll die Aufgabenpriorisierung im Einzelnen erfolgen? Das zu entscheiden ist das Schwierige, es geht um Verteilungsfragen, um das Abwägen unter Optionen wie Aufrüstung, Kitas und Schulen, Klimaanpassung, Pflege oder Bürgergeld. Es geht um Posten von -zig und hunderten Milliarden. Darüber im Detail zu streiten, würde eigentlich in den Wahlkampf gehören.
Weitere Informationen
Diakonie Deutschland, Zentrum Flucht und Migration
Diakonie Baden, Flucht- und Migrationsexperte ordnet Aspekte der Flüchtlingspolitik ein, zu den Anschlägen in Magdeburg und Aschaffenburg, 3. Februar 2025
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Nachhaltige Perspektiven für das Einwanderungsland Deutschland: 10 Handlungsmaxime
Diakonie Deutschland, Einwanderungspolitik und Einwanderungsgesetzgebung, Diakonie Texte 07.2019