Illustration Hilfe Arbeitslose, Armut und soziale Ausgrenzung
© Diakonie/Francesco Ciccolella

Altersarmut als Problem begreifen und überwinden

Die Altersarmut steigt, besonders bei Frauen. Die aktuelle Rente greift zu kurz. Fehlanreize wie das Ehegattensplitting und komplexe Ausgleichsmechanismen verschärfen das Problem. Handeln ist dringend nötig. Von Michael David

Reichen die bestehenden Instrumente des Sozialstaates aus, um den Menschen ein gutes Leben im Alter zu sichern? Die Zahl der von Altersarmut betroffenen Menschen steigt seit Jahren. Die Statistiken zeigen, dass soziale Benachteiligung, Armut und soziale Ausgrenzung in hohem Maße „geschlechtsspezifisch“ sind. Jede fünfte Seniorin ist betroffen. Bei den Männern ist das Armutsrisiko mit gut 15 Prozent deutlich spürbar, aber auch deutlich geringer. Aber auch hier nimmt die Altersarmut kontinuierlich zu: unterbrochene Erwerbsbiografien, Zeiten der Arbeitslosigkeit und Neuorientierung, Krankheit, Fluchterfahrungen und andere Faktoren führen bei Männern und Frauen insgesamt zu einem höheren Armutsrisiko im Alter. Bisher ist die Rente darauf ausgerichtet, dass Menschen über viele Jahre kontinuierlich in Vollzeit sozialversichert beschäftigt sind. Das gelingt immer mehr Menschen nicht. Deshalb müssen wir Altersarmut als Problem begreifen und überwinden.

Die umlagefinanzierte Rente ist die starke Säule der Alterssicherung in Deutschland. Die Vorstellung, dass die kapitalgedeckte Vorsorge auf dem privaten Markt die Lücken gerade bei denjenigen schließen kann, die nur wenig Alterseinkommen aufbauen konnten, hat sich nicht bewahrheitet. Wer im Erwerbsleben gerade das Nötigste zum Leben bestreiten kann, ist nicht in der Lage, zusätzlich eine umfangreiche private Altersvorsorge aufzubauen. Und: Die betriebliche Altersvorsorge - die in der Regel sehr gut ist - greift in tarifgebundenen Branchen mit guten Beschäftigungsbedingungen. Gerade Menschen mit unterbrochenen und schwierigen Erwerbsbiographien finden sich dort nicht wieder.

Frauen überproportinal von Altersarmut betroffen

Deshalb müssen wir diese Menschen besonders in den Blick nehmen und ihre Rechte gezielt stärken. Ein Blick in die Statistik zeigt: Altersarmut trifft Frauen überproportional. Wir haben in Deutschland starke Fehlanreize, in den Familien das Lebensmodell des "Ernährers" und der "Ernährerin" zu entwickeln. Diese verdienen dann etwas „dazu“. Das sind fast immer Frauen, und das geschieht oft in prekären oder unsicheren Arbeitsverhältnissen.
Kommt es zu Trennungen, ist die Lücke in der Altersvorsorge da. Der Versorgungsausgleich im Scheidungsfall kann zwar rückwirkend etwas ausgleichen - für die Zukunft hilft das aber wenig. Wer jahrelang nur eingeschränkt erwerbstätig war und keine eigene Karriere verfolgt hat, kann dies nach einer Scheidung und mit weiter bestehenden Erziehungslasten kaum tun.
Deshalb Punkt 1: Ehegattensplitting, Steuerklassen 3 und 5. Da muss etwas passieren. Es gibt schon eine Staffelung, die Bundesregierung will da mehr machen. Die Frage ist: Macht das überhaupt noch Sinn? Wäre es nicht besser, nur den steuerlichen Grundfreibetrag im Bedarfsfall, etwas bei Erwerbslosigkeit, zu übertragen? Ein steuerlicher Ausgleich für die Versorgung in Notlagen ist sinnvoll, aber nicht ein Gesamtkonstrukt der Zugewinngemeinschaft mit der Belohnung von Abstrichen an der eigenen Erwerbsbiographie.
Punkt 2: Die Ausgleichsmechanismen müssen deutlich vereinfacht werden. Wenn schon Versorgungsausgleich - warum nicht von Anfang an und nicht erst bei Scheidung? Oder: Bisher kann Erziehungszeit unter verschiedenen Voraussetzungen nachträglich als rentenwirksame Zeit geltend gemacht werden. Das ist umständlich und geht zu Lasten der Steuerzahler. Wäre es nicht viel sinnvoller, z.B. bei Kleinkinderzeiten anzusetzen und vollzeitnahe Teilzeit als Zielgröße zu nehmen und solche erwerbsbiografisch günstigen Modelle gezielt zu fördern?

Wenn wir schon über Steuerzuschüsse reden, dann wäre es sinnvoll, diese als sofortigen Zusatzbeitrag zu gewähren, im Rahmen von Zusatzleistungen, z.B. beim Elterngeld, wenn hier weiter gearbeitet und die Arbeitszeit reduziert wird, oder als individuelle Erziehungsleistung danach. Damit würden wir Steuerzahlungen gezielt mit dem persönlichen Aufbau von Anwartschaften verknüpfen, statt nachträglich Finanzierungslücken in der Rentenversicherung auszugleichen. Eine solche steuerliche Stärkung würde dem Umlagesystem gut tun.
Punkt 3: Viele Kleinselbständige würden enorm davon profitieren, wenn sie voll in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen würden, z.B. die nebenberuflich selbständige Physiotherapeutin. Gleichzeitig würde dadurch die Beitragsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung gestärkt.

Was muss an welcher Stelle getan werden, um Altersarmut wirksam zu bekämpfen?

Gesetzliche Rente: Die umlagefinanzierte Rente ist das Fundament unserer Alterssicherung. Lücken müssen zuerst hier geschlossen werden. Zur Frage der Erziehungszeiten, der Kleinselbständigkeit oder der Fehlanreize in der Familienförderung habe ich bereits etwas gesagt.
Grundsicherung: Die Freibetragsregelung ist ungünstig. Wer eine betriebliche Altersvorsorge aufgebaut hat (mehr Männer als Frauen), hat mehr in der Tasche. Die Frau, die durch 25 Jahre Teilzeitarbeit eine Minirente von 600 Euro in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgebaut hat, muss sich das voll anrechnen lassen. Ein spürbarer Freibetrag für gesetzliche Rentenansprüche in der Grundsicherung im Alter würde einen sehr starken Anreiz setzen, zumindest geringe Rentenansprüche aufzubauen. Dann würde es sich auch lohnen, ab dem 50. Lebensjahr im Alter zu arbeiten, wenn dies sozialversichert geschieht. Das Opt-out bei den Minijobs sollte gleichzeitig abgeschafft werden. Wer arbeitet, soll bitte immer Rentenansprüche in der GRV aufbauen.

Viele wissen nicht, welche Ansprüche sie haben

Leistungsansprüche: Viele wissen nicht, welche Ansprüche sie haben, weder bei der Grundsicherung noch bei der Grundrente. Heute gibt es Informationen. Noch besser wäre: Wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass jemand von so geringen Rentenansprüchen nicht leben kann, müsste von Amts wegen ein Antragsverfahren eingeleitet werden. Das ist im SGB XII durchaus vorgesehen und kann genutzt werden. Meine Vorstellung: Hinweis des Rententrägers, Mitteilung des Grundsicherungsträgers, dass von Amts wegen geprüft wird, Anforderung von Unterlagen. Die Möglichkeit, innerhalb von vier Wochen Widerspruch einzulegen, damit das aufhört. Das ist dann sinnvoll, wenn zum Beispiel Leute nur geringe Ansprüche aus der GRV haben, aber später Rentenansprüche aufgebaut haben. Die könnten dann sagen: Bei mir bitte nicht, und wir könnten uns viel Bürokratie sparen.
Grundrente: Hier liegt die Hürde mit mehr als 30 Beitragsjahren vor allem für viele Frauen zu hoch. Und leider sind die unkomplizierten Antragsverfahrensvorschläge des Ministers später im politischen Prozess zugunsten aufwendiger Prüfungen kassiert worden. Ganz wichtig: Es muss von Anfang an möglich sein, einfach nachzuweisen, dass der Grundbedarf im Alter nicht ausreichend gedeckt ist. Ein Rückgriff auf steuerliche Vorjahre zur Überprüfung reicht da nicht wirklich aus.

Ältere Menschen, die von Altersarmut bedroht sind, brauchen besondere Unterstützung.

Die Diakonie hat gerade ein Modellprojekt laufen, das vom Bundesministerium für Umwelt und Verbraucherschutz unterstützt wird: Sozialräumliche soziale Schuldnerberatung von Senior:innen. Da gehen unsere Berater:innen zu den Leuten nach Hause und gehen die Papiere durch, die sich da stapeln. Da muss sich niemand öffentlich outen und da werden auch die erreicht, die es selbst nicht in die Beratungsstelle schaffen. Aufsuchende Arbeit im Sozialraum, das ist die Zukunft.

Und: Es hilft wenig, wenn man sagt: Alle, die arm sind, können sich hier und da melden und dann wird geholfen. Gerade die Alten haben ihren Stolz. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet und gehen dann lieber kilometerweit zu Sonderangeboten, als sich beim Amt zu melden. Deshalb ist es viel besser, in die bestehenden Seniorentreffs zu gehen und so zu informieren: Was gibt es für Hilfen? Wie kann man anderen helfen und Tipps geben? Das haben wir in der Energiekrise mit unserer Aktion „Wärmewinter“ gemacht. Und viele sind dann auf unsere Leute zugekommen und haben sich getraut, auch etwas Persönliches anzusprechen. Solche niedrigen Schwellen müssen wir gewährleisten. Offene Angebote, Kochkurse, gemeinsames Mittagessen für alle: Das erreicht immer auch die, die nichts haben und die froh sind, wenn sie nicht erst einen Bedürftigkeitsnachweis erbringen müssen.
Das heißt also auch konkret für den § 71 Altenhilfe im SGB XII: Beratungs- und Betreuungsleistungen nicht erst als extra zu beantragende Leistung, wo die Menschen sich erst trauen müssen, den Antrag zu stellen. Sondern: Angebote „einfach so“, die dann, wenn Vertrauen aufgebaut ist, als Türöffner dienen.

Insgesamt müssen die Informationen über Hilfsmöglichkeiten noch besser verbreitet werden. Und dabei ist mir wichtig: Flyer in Begegnungsstätten helfen gerade älteren Menschen mehr als tolle Homepages. Für die meisten Älteren gilt immer noch: analog first, digital ist eine Hürde. Richtig, die müssen wir senken, aber für 84-Jährige, die nach dem Tod des Partners in Not geraten, brauchen wir nicht erst einen Computerkurs, sondern jemanden, der direkt ansprechbar und unkompliziert erreichbar ist.

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