Altenhilfe
Die Wichernzeit
Als Johann Hinrich Wichern im Jahr 1848 die organisierte Diakonie ins Leben rief, gehörten alte Menschen nicht zu den Bevölkerungsgruppen, die als besonders betreuungsbedürftig galten. Auch rein quantitativ hatte das Alter noch keine besondere Bedeutung. Der Anteil der alten Menschen über 65 Jahre an der Gesamtbevölkerung betrug Mitte des 19. Jahrhunderts weniger als fünf Prozent. Eine fest definierte Zeit des Ruhestands gab es nicht. Nur wer über ausreichend Kapital oder Besitz verfügte, konnte es sich leisten, sich irgendwann im fortgeschrittenen Alter zur Ruhe zu setzen. Die meisten alten Menschen gingen so lange wie möglich ihrer Arbeit nach, um ihre eigene Existenz zu sichern oder zumindest zum Familienunterhalt beizutragen.
Gab es am Ende des Lebens eine – meistens kurze – Phase der Krankheit und Invalidität, wurde sie in der Familie verbracht. Alten Menschen, die verarmt und allein stehend und deshalb auf öffentliche Einrichtungen angewiesen waren, standen nur die allgemeinen Armen- und Siechenhäuser zur Verfügung. Dort lebten sie in Gemeinschaft mit Kranken, körperlich oder geistig behinderten Menschen, Waisenkindern und anderen Hilfsbedürftigen, die sich nicht oder nicht mehr durch Erwerbsarbeit erhalten konnten. Auf evangelischer Seite wurden diese Häuser oft von den Kirchengemeinden getragen und von den Gemeindepfarrern verwaltet. Eine volle Versorgung und Verpflegung konnte dort kaum geleistet werden. Häufig stand eine Kochgelegenheit oder auch Gartenland zur Verfügung, so dass die Bewohnerinnen und Bewohner sich selbst versorgen konnten. Manchmal wurden sie mit Naturalien wie Milch, Brot und Kartoffeln unterstützt. Eine kostenfreie Beerdigung wurde fast immer zugesichert.
Erste diakonische Altenheime
Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten reinen Altenheime in diakonischer Trägerschaft, als die wachsende Binnenwanderung in Deutschland die Generationen immer mehr auseinander riss, so dass die Altersversorgung durch den Familienverband nicht mehr greifen konnte. Viele frühe Altenhilfeeinrichtungen der Diakonie nahmen ausdrücklich nur arme alte Menschen auf und waren damit nach wie vor eher ein Teil der Armenfürsorge als einer speziellen Altenarbeit. Häufig wurden sie auch nicht als Altenheim bezeichnet, sondern als Asyl, also als ein Zufluchtsort. Auch in diesem Begriff klingt an, dass die öffentlichen Einrichtungen nur eine Nothilfe für diejenigen waren, die keine andere Möglichkeit hatten, ihren Lebensabend zu verbringen und nicht etwa eine Alternative zu dem Leben in der Familie.
Die Versorgung und Pflege der alten Menschen, die in den evangelischen Häusern überwiegend von Diakonissen wahrgenommen wurde, war deutlich umfassender und besser als in den alten Armenhäusern. Dennoch war die Mithilfe der Bewohnerinnen und Bewohner in der Hauswirtschaft und bei der Pflege der „Siechen“ noch immer selbstverständlich. Die ersten Heime für alte Menschen wurden in den Städten gegründet. Dort entstanden um die Jahrhundertwende auch einige evangelische Damenstifte, die allein stehende und bedürftige Damen der „höheren Stände“ aufnahmen. Interessentinnen mussten dort meistens ein Eintritts- oder Einkaufsgeld einbringen. Für allein stehende ältere Frauen aller Schichten bestand generell ein erhöhtes Verarmungsrisiko. Frauen verdienten wesentlich weniger, hatten weniger Arbeitsmöglichkeiten und verfügten nur selten über soviel Vermögen, dass sie angemessen davon leben konnten. Viele diakonische Einrichtungen der Altenhilfe wurden deshalb für Frauen gegründet.
Altersarmut nach dem Ersten Weltkrieg
Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem deutlichen Anstieg der Zahl alter Menschen, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen waren. In den Jahren der Inflation und der Weltwirtschaftskrise wurden immer mehr ältere Menschen aus dem Arbeitsleben hinausgedrängt. Beamte und Angestellte über 65 Jahre hatten inzwischen Anspruch auf Pensions- beziehungsweise Rentenzahlungen; Arbeiter konnten ab 70 Jahren eine Altersrente erwarten. Diese Versicherungsleistungen waren jedoch als Beihilfen konzipiert und bedeuteten keine ausreichende Absicherung, so dass viele alte Menschen länger erwerbstätig blieben. 1923 wurde die Zwangspensionierung aller Beamten über 65 Jahre im ganzen Deutschen Reich gesetzlich verankert.
Auch ältere Arbeiter und Angestellte wurden in den Ruhestand geschickt, der sie oft zu Empfängern von Sozialleistungen werden ließ. Hinzu kam, dass auch viele Angehörige des Mittelstandes, die versucht hatten, ihre Altersversorgung selbst zu erwirtschaften, ihr Vermögen verloren hatten und nun ebenfalls auf öffentliche Gelder angewiesen waren. Rein quantitativ hatte sich in der Altersgruppe der über 65-Jährigen nicht viel geändert. Nach wie vor machten sie nur circa fünf bis sechs Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
"Altershilfe des deutschen Volkes"
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, darunter auch die Innere Mission, riefen Anfang der 20er Jahre die „Altershilfe des deutschen Volkes“ ins Leben, deren Aufgabe einerseits darin bestand, Geld für die individuelle Unterstützung alter Menschen zu sammeln, andererseits aber auch darin, „die Ehrfurcht vor dem Alter“ neu zu beleben und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Unterstützung der Alten eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft sei. Darüber hinaus wollte die Altershilfe Kräfte nutzbar machen, die eine Selbsthilfe auf „genossenschaftlicher Grundlage“ ermöglichten. Das neue Hilfswerk hatte keinen besonderen Erfolg und es bestand nur kurze Zeit.
Die wachsende Zahl alter Menschen, die nicht mehr berufstätig waren und von einem niedrigen Einkommen leben mussten, führte jedoch zu einem Ausbau der stationären Altenarbeit. Das Leben im Altenheim bot Sicherheit und Versorgung in unsicheren Zeiten. Zu den wirtschaftlichen Problemen kam die große Wohnungsnot der 20er Jahre, die ein Anlass dafür war, alten Menschen eine Umsiedlung ins Heim nahe zu legen, um mehr Wohnraum für junge Familien zur Verfügung zu haben. Die Nachfrage nach Plätzen im Altenheim wuchs an, besonders in den Städten. 1929 betrieb die Innere Mission im ganzen Deutschen Reich bereits 943 Altenheime mit 26.630 Betten. Das Angebot wurde differenzierter. Neu gegründete Altenheime boten meistens Wohnraum mit voller Verpflegung und Pflege im Krankheitsfall nach drei Klassen an. Bewohnerinnen und Bewohner der dritten Klasse wohnten überwiegend in einfachen Mehrbettzimmern, während die erste Klasse über Einzelzimmer und häufig auch besonders ausgestattete Wohn- und Speiseräume verfügte. Insgesamt hatte sich die Altenhilfe als wichtiges diakonisches Arbeitsfeld etabliert.
Altenhilfe im „Dritten Reich“
In der NS-Zeit war die kirchliche Altenhilfe ein Arbeitsfeld, das von Konflikten mit dem Staat und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) vergleichsweise wenig betroffen war. Alte Menschen gehörten zu den Bevölkerungsgruppen, die für den „Aufbau des neuen Staates“ keine besondere Rolle mehr spielten und deshalb gern der Diakonie überlassen wurden. Während die NSV andere klassische kirchliche Aufgabenbereiche wie etwa die Erholungsfürsorge ganz übernehmen wollte, und viele Bereiche wie die Behindertenarbeit, die Jugendfürsorge und die Nichtsesshaftenhilfe von eugenischen und rassenhygienischen Gesetzen und Maßnahmen betroffen waren, blieb die Altenarbeit von solchen Eingriffen weitgehend verschont.
1935 wurde die bereits sechs Jahre zuvor gegründete Reichskonferenz für Evangelische Alters- und Siechenfürsorge in einen eingetragenen Verein umgewandelt. In der Begründung hieß es: „Gerade in der heutigen Zeit, in der die Sorge für das Kranke und Schwache immer mehr den kirchlichen Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege überlassen werden soll, gewinnt auch die Arbeit an den Alten und Siechen für uns erhöhte Bedeutung.“
Ambulante Dienste spielten untergeordnete Rolle
Die Arbeit des Reichsverbandes, wie die ehemalige Konferenz nun hieß, bestehe in erster Linie in der Beratung einzelner Personen bei der Unterbringung in Altersheimen und in der Beratung der Heime bei der Aufstellung von Satzungen und Hausordnungen; doch habe sie in der Zukunft „weit zahlreichere und größere Aufgaben.“ Schwerpunktmäßig förderte der Reichsverband die Altenheime. Ambulante Dienste wie Mittagsküchen und Hauspflegen oder wirtschaftliche Hilfen spielten nur eine untergeordnete Rolle. Nach einer Statistik von 1937 betrieb die Innere Mission damals 1.030 Einrichtungen der Altenhilfe mit 31.950 Betten. Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung war leicht angestiegen, er betrug ca. 7,5 Prozent.
Lange Zeit war eine ausreichende Versorgung notleidender alter Menschen das Ziel der kirchlichen Altenhilfe gewesen. Nun setzte man sich auch mit der Frage auseinander, ob zuviel Fürsorge nicht auch weniger Lebensqualität bedeuten konnte. Auf der Jahrestagung des Reichsverbandes für Evangelische Alters- und Siechenfürsorge hielt Pastor Karl Pawlowski (1898-1964), Leiter des Ortsverbandes für Innere Mission in Bielefeld, dem fünf Altenheime angehörten, 1938 einen Vortrag über das Thema „Beschäftigungsmöglichkeiten für die Alten und Siechen“.
Mitarbeit und Eigenverantwortung
Pawlowski führte darin aus, wie wichtig es sei, nicht nur den Typ des Altersheims zu pflegen, in dem man sich von des Lebens Mühe ausruhe: „Man kann es gar nicht ernsthaft genug aussprechen, wie wir alle, die wir in der Leitung in unseren Heimen stehen, darauf bedacht sein müssen, denen, die uns anempfohlen sind, auch bei ihren schwachen und alten Kräften ein Stückchen Verantwortung, ein Stückchen Arbeit, und sei es noch so klein und winzig, zuzuweisen. Es ist dies ein Akt der Barmherzigkeit!“ Bei neu erbauten Heimen solle eine Kochnische für jedes Zimmer eingeplant werden, um den alten Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selber zum Frühstück den Kaffee zu kochen oder sich eine Kleinigkeit zum Abendbrot herzurichten.
Die Mitarbeit der alten Menschen und ihre Eigenverantwortung, die noch wenige Jahrzehnte zuvor aus wirtschaftlichen Gründen eine Selbstverständlichkeit gewesen war, wurde nun, da sich für eine etwas größere Gruppe alter Menschen eine arbeitsfreie Phase herausgebildet hatte, und es mehr Angebote gab, die unter bestimmten Voraussetzungen eine volle Versorgung und Pflege sicherten, unter ganz anderen Vorzeichen diskutiert.
Die Kriegsereignisse ließen jedoch bald auch in der Altenarbeit die Auseinandersetzungen um eine sinnvolle Lebensgestaltung im Ruhestand in den Hintergrund treten. Viele Altenheime wurden zerstört, viele mussten geräumt werden, um als Lazarette zur Verfügung zu stehen. Das letzte Kriegsjahr verbrachten viele Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen provisorisch in Turnhallen, Schulklassen oder Lagerräumen.
Notunterkünfte nach dem Zweiten Weltkrieg
Von der Not der ersten Nachkriegsjahre waren alte Menschen besonders betroffen. Wie in den Zeiten der Industrialisierung bewirkten die Bevölkerungswanderungen eine verstärkte Auflösung der familiären Bindungen. Die Zerstörung des Wohnraumes machte in vielen Städten das Zusammenleben von Großeltern, Eltern und Kindern in einem Haushalt unmöglich. Mit den Flüchtlingsströmen kamen Tausende von alten Menschen in den Westen, die ebenfalls untergebracht und betreut werden mussten. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, das unmittelbar nach Kriegsende von Eugen Gerstenmaier ins Leben gerufen wurde, richtete zahlreiche Notunterkünfte für alte Menschen ein.
Mit der Gründung der Bundesrepublik wurden auch die Lebensbedingungen alter Menschen in dem neuen Staat wieder intensiver thematisiert. Ende 1949 fand in Bremen die erste Arbeitstagung des Reichsverbandes für Evangelische Alters- und Siechenfürsorge nach dem Krieg statt. Auf der Tagung wurde unter anderem empfohlen, bei Neubauten von Altenheimen möglichst viele, wenn auch noch so kleine Einzelzimmer zu schaffen. In der Praxis war die Altenhilfe von diesem Ziel weit entfernt.
Altenheimplätze mit Wartelisten
Die Mehrheit der Altenheimbewohner teilte einen Raum mit ein bis fünf Zimmergenossen. In manchen Notunterkünften lebten noch immer alte Menschen in Schlafsälen mit zehn Betten. Viele Altenheime waren im Krieg zerstört worden. Die Statistik des Reichsverbandes wies 1953 nur 680 Alten- und Pflegeheime aus, obwohl inzwischen der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung auf ca. zehn Prozent angestiegen war. Für die vorhandenen Altenheimplätze wurden lange Wartelisten geführt, und es gab zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber, die nicht berücksichtigt werden konnten.
Der Vorstand des Reichsverbandes schrieb über die Situation der alten Menschen in der Bundesrepublik: „Der alte Mensch ist immer noch ein Stiefkind der Fürsorge. ... Die Not der einsamen Alten, die als Fürsorgeempfänger oder trotz einer Unterhaltshilfe oder einer geringen Sozialrente immer am Rande der Hilfsbedürftigkeit leben, ist erschütternd. ... Es ist nun einmal so, dieses Jahrhundert, das als Jahrhundert des Kindes begann, hat sich in seiner zweiten Hälfte in das Jahrhundert der Alten verwandelt!“ Das „Wirtschaftswunder“ nach der Gründung der Bundesrepublik ging tatsächlich zunächst an den alten Menschen vorbei. Ihre Wohnsituation blieb lange überdurchschnittlich schlecht und Pensionen und Renten bildeten lange Zeit das Schlusslicht beim Aufbau des bundesdeutschen Sozialstaates.
Dynamische Renten
Wieder waren es die Frauen, die im Alter oft in großer Armut lebten und versuchen mussten, durch Gelegenheitsarbeiten wie Nähen oder Putzen noch etwas Geld zu verdienen. 1957 wurde dann nach jahrelangen Debatten die dynamische Rente eingeführt, die es den älteren Menschen ermöglichen sollte, an den Steigerungen des Bruttosozialproduktes teilzunehmen. Damit hatte erstmals eine größere Bevölkerungsgruppe Anspruch auf Leistungen, die eine arbeitsfreie Lebensphase im Alter absicherten. Die wirtschaftliche Situation der alten Menschen verbesserte sich langsam.
Die Diakonie begrüßte diese Entwicklung. Der westfälische Landesverband der Inneren Mission betonte in seiner Zeitschrift „Hand am Pflug“ sogar, mit einem Verweis auf die Milliarden, die in Deutschland für Rüstung ausgegeben würden, dass in anderen europäischen Ländern staatliche und kommunale Maßnahmen nicht das Existenzminimum für alte Menschen, sondern deren „Wohlbefinden“ und „materielle Sorglosigkeit“ zum Ziel haben. Gleichzeitig wurde jedoch auch der „Pensionsschock“ diskutiert, der Ruheständler an den Folgen der plötzlichen Beschäftigungslosigkeit dahinsterben lasse.
Durch die nun allgemein übliche Verrentung mit 65 Jahren sei eine neue Gruppe entstanden, die zwischen der „Vollreife des Lebens“ und dem „hilfsbedürftigen Alter“ liege. Für diese Gruppe, die zum Teil den Wunsch habe, über ihr Dienstalter hinaus eine sinnvolle Aufgabe zu haben, müsse es neue Lösungen geben. Sowohl der Reichsverband für Evangelische Alters- und Siechenfürsorge als auch einzelne diakonische Landesverbände betonten das Recht alter Menschen auf sinnvolle Beschäftigung und warnten vor dem Widerspruch, der darin liege, dass die Zahl alter Menschen stetig zunehme, während die allgemeine Einschätzung ihrer sozialen Brauchbarkeit und Wertigkeit in gleichem Maße sinke.
Neue Angebote für alte Menschen
In der diakonischen Altenarbeit entstanden zunächst neue Formen der stationären Altenhilfe, die auch für „rüstige“ ältere Menschen attraktiv waren. 1957 weihte das Evangelische Johanneswerk, ein diakonischer Trägerverband mit Sitz in Bielefeld, in Iserlohn das erste dreistufige Altenzentrum in Deutschland ein. Die Einrichtung verfügte sowohl über Altenwohnungen als auch Altenheimplätze und eine Pflegeabteilung. Das Altenzentrum bot aktiven, älteren Menschen die Möglichkeit, weitgehend selbstständig zu leben. Andererseits war erhöhte Pflegebedürftigkeit nicht mehr mit dem Wechsel in eine andere Einrichtung verbunden. Das Modell orientierte sich an den verschiedenen „Stufen“, die eine längere Altersphase nun haben konnte. Im Rahmen einer Ausstellung der Sozialabteilung der Vereinten Nationen in Genf wurde das Iserlohner Tersteegen-Haus europaweit als Vorbild dargestellt und die Fortsetzung und Weiterentwicklung dieser Bauweise empfohlen.
Neben der stationären Altenhilfe gewann auch die offene Altenarbeit zunehmend an Bedeutung. Nach englischem Vorbild richteten die Diakonie und andere Träger der Freien Wohlfahrtspflege Mahlzeitendienste für alte Menschen ein, die unter dem Namen „Essen auf Rädern“ bald ein bekannter und beliebter Service wurden. In vielen größeren Städten gründete die Diakonie Altentagesstätten, die mit ihrem Freizeitangebot dazu beitrugen, Einsamkeit und Ereignislosigkeit im Alter aufzufangen. Vorübergehend wurde auch in der Diakonie die Einrichtung besonderer „Altenwerkstätten“ oder „Feierabendbetriebe“ diskutiert, in denen pensionierte Arbeitnehmer Beschäftigung fanden, die auf ihre Leistungsfähigkeit zugeschnitten war.
Neue Pflegekonzepte
Spätestens seit den 60er Jahren veränderte sich die Struktur der Bewohnerinnen und Bewohner in den Alten- und Pflegeheimen. Es kamen immer mehr dauerhaft pflegebedürftige alte Menschen, die nicht nur kurze Zeit betreut werden mussten, sondern oft über viele Jahre. In den Altenheimen wurden die Pflegestationen erweitert und ausgebaut.
In diesem Zusammenhang entwickelten sich neue Arbeitsformen in der Pflege, die eine andere Bedeutung gewann. Rehabilitationsmaßnahmen wurden immer wichtiger und die so genannte „aktivierende Pflege“ war darauf ausgerichtet, die verbliebenen Kräfte der alten Menschen zu üben und zu erhalten und so eine Besserung ihres Allgemeinzustandes zu erreichen.
Neue diakonische Altenzentren
Viele neu erbaute diakonische Altenzentren verfügten nun über besondere Räume für medizinische Bäder mit Bewegungstherapie, Bestrahlungen, Massage und anderen Heilbehandlungen. Die traditionelle bewahrende Altenhilfe gehörte immer mehr der Vergangenheit an. Im Vordergrund stand nun nicht mehr das Bemühen, die alten Menschen so umfassend wie möglich zu versorgen, sondern ihnen nur die Tätigkeiten abzunehmen, die sie selbst nicht mehr erledigen konnten. Ziel war nicht mehr allein der sorglose Lebensabend, sondern die Vermeidung von Abhängigkeit und der Erhalt oder Wiedergewinn der Selbstständigkeit. Rehabilitation und Aktivierung wurden wichtige Begriffe, die ein neues Pflegekonzept prägten.
Mitte der 70er Jahre verfügte die Diakonie in der Bundesrepublik über rund 1.300 stationäre Einrichtungen der Altenarbeit, in denen mehr als 26.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig waren. Hinzu kamen Altentagesstätten, Beratungsstellen und Mahlzeitendienste. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bereits 14 Prozent.
Anforderungen an Wohnqualität und Professionalität stiegen
Allmählich setzte sich in den folgenden Jahren die Erkenntnis durch, dass der hohe Stand an pflegetechnischer Ausstattung, den man mittlerweile in den Heimen erreicht hatte, und die verbesserten pflegerischen Möglichkeiten allein zu wenig waren, um den Bedürfnissen der alten Menschen nach einem angemessenen Wohn- und Lebensraum, in dem sie häufig viele Jahre verbrachten, gerecht zu werden.
Die Wohnqualität gewann in den Alteneinrichtungen an Bedeutung; Beschäftigungs- und Freizeitangebote wurden verstärkt. Gleichzeitig stiegen die Anforderungen an die Professionalität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Altenpflege erheblich.
Die fachliche Qualifikation spielte eine immer größere Rolle. In den evangelischen Alten- und Pflegeheimen verabschiedeten sich außerdem die letzten Diakonissen. Auch die diakonisch orientierten Hauseltern, die ihre Einrichtung familienanalog als Hausvater und Hausmutter leiteten, wurden nach und nach seltener.
Diakonische Altenarbeit heute und morgen
Die diakonische Altenarbeit hat sich in den vergangenen 150 Jahren von einem Randgebiet der allgemeinen Armenfürsorge zu einem bedeutenden Tätigkeitsfeld entwickelt. Am Anfang des dritten Jahrtausends verfügt die Diakonie über rund 1.900 stationäre Einrichtungen der Altenhilfe, 325 Tageseinrichtungen und 165 Beratungsstellen und ambulante Dienste. Mehr als 81.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind insgesamt dort tätig.
Das „Jahrhundert der Alten“ geht im neuen Jahrtausend weiter. 2006 sind ca. 25 Prozent der Deutschen älter als 60 Jahre. Das statistische Bundesamt weist darauf hin, dass die Alterung in den nächsten beiden Jahrzehnten eine große Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft darstellt. Probleme, die schon in früheren Jahrzehnten vorhanden waren, sind noch oder wieder aktuell. Wie kann verhindert werden, dass das Alter mit einem hohen Verarmungsrisiko verbunden ist, weil es keine Erwerbsmöglichkeiten gibt oder die Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist und es keine ausreichende Absicherung gibt? Wie kann Lebensqualität im Alter erhalten werden? Welche gesellschaftlichen Aufgaben können ältere und alte Menschen übernehmen?
Die Familie war schon in der Vergangenheit nicht immer in der Lage, ihre alt gewordenen Mitglieder zu versorgen. In einer Gesellschaft, in der die Alten immer zahlreicher werden und die Familie längst nicht mehr die einzige Lebensform ist, muss erst recht nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten für das Leben im Alter gesucht werden.
Angebote orientieren sich am Bedarf
Das Alter ist eine Lebensphase geworden, die 30 Jahre und länger dauern kann. Entsprechend unterschiedlich sind die Lebenssituationen alter Menschen und ihre Wünsche nach Hilfe und Unterstützung. Viele „junge“ Seniorinnen und Senioren sind gesund und aktiv und genießen die arbeitsfreie Zeit nach der Pensionierung. Andererseits sind in der Altersgruppe der 80- bis 95-Jährigen, die in Deutschland derzeit rasch anwächst, viele Menschen schwer pflegebedürftig oder leiden an Altersdemenz und brauchen eine besondere geschützte Umgebung.
Moderne diakonische Altenarbeit ist deshalb vielgestaltig und wandlungsfähig. Ihre Angebote und Dienstleistungen orientieren sich an den Lebensräumen alter Menschen und an deren persönlichem Hilfebedarf. Das herkömmliche Alten- und Pflegeheim wird in Zukunft eine sehr viel geringere Rolle in der Altenhilfe spielen als bisher.Neu entwickelte Wohnformen sind für viele Ältere eine interessante Alternative zum Heim. So leben zum Beispiel im Rahmen des Servicewohnens die alten Menschen in ihrer eigenen Wohnung, sind jedoch in ein umfassendes Netzwerk eingebunden, das nicht nur gemeinsame Aktivitäten der Hausbewohnerinnen und -bewohner anbietet, sondern auch einen ambulanten Pflegedienst, Essensservice, ein Hausnotrufsystem, bei Bedarf Kurzzeit- oder Vollzeitpflege. Weitgehende Selbstständigkeit in der Lebensgestaltung wird hier mit einem umfassenden Sicherheitskonzept verbunden.
Neue Pflegekonzepte
Die stationäre Altenarbeit orientiert sich zunehmend an Menschen, die schwer somatisch erkrankt sind oder unter fortgeschrittener Demenz leiden und deshalb besondere Pflege und Zuwendung benötigen. Die Bildung kleiner Wohngruppen ermöglicht eine Tagesstruktur, die an das „normale“ Leben außerhalb des Heimes angeglichen ist.
Neue Pflegekonzepte verbessern die Lebensqualität dementiell erkrankter und schwer pflegebedürftiger alter Menschen. Sensorische Reize durch Licht, Geräusche und Düfte sollen angenehme Erlebnisse ermöglichen oder schöne Erinnerungen wach rufen. Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, deren Schlaf-Wachrhythmus gestört ist, erhalten Betreuungsangebote auch am späten Abend und in der Nacht, um ihnen Ruhe und Geborgenheit zu vermitteln.
Allerdings ist eine solche qualitativ hochwertige Pflege auch nur möglich, wenn sie finanziert werden kann. Die unter Umständen lange Pflegebedürftigkeit der ältesten Generation unterscheidet das Alter gestern und heute. Geistig und körperlich stark eingeschränkten alten Menschen in ihren letzten Jahren ein Leben in Würde und größtmöglicher Zufriedenheit zu ermöglichen, gehört so zu den großen Herausforderungen zukünftiger Altenarbeit.
Literatur: Peter Borscheid (Hg.): Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995.
Christoph Conrad: Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994.
Kenan H. Irmak: Der Sieche. Alte Menschen und die stationäre Altenhilfe in Deutschland 1924-1961, Essen 2002.
Bärbel Thau: „Den Jahren Leben geben ...“ Zur Geschichte der stationären Altenarbeit im Evangelischen Johanneswerk, in: Forum Diakonie 11/1997, 26-43.
Autorin: Bärbel Thau