Apologetik
Das Jahrhundert der Apologetik
Im 19. Jahrhundert nahm der Verbandsprotestantismus die geistige Auseinandersetzung mit zeitgenössischen weltanschaulichen und religiösen Strömungen unter dem Stichwort ‚Apologetik’ auf. Mit Gründung apologetischer Kommissionen und einer Zentralstelle entwickelte sich die Weltanschauungsarbeit am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Spezialgebiet der Inneren Mission. Die apologetische Aufgabe richtete sich gegen Materialismus, Sozialismus und Liberalismus, aber auch gegen ein sich absolut setzendes Bildungsideal. Die Auseinandersetzung, die im 19. Jahrhundert auch als ‚Geisteskampf der Gegenwart’ – so der Titel eines zeit-genössischen Fachblattes – verstanden wurde, vollzog sich überwiegend als publizistische Abwehrarbeit christentumsfeindlicher Weltanschauungen und Gruppierungen. Kirche und Verbandsprotestantismus begriffen sich dabei als wesentliche Garanten für den Erhalt der deutsch-christlichen Literatur.
Anknüpfung an Wichern
Bereits Johann Hinrich Wichern hatte mit dem umfassenden Programm der Inneren Mission den Blick auf die Relevanz einer praktischen Apologetik gelenkt, indem er auf die geistige Not des Volkes aufmerksam machte. Er hielt es für ein Gebot der Stunde, dass die Kirche sich mit den aktuellen Widersachern des Glaubens auseinander setzen müsse. Vor diesem Hintergrund forderte Wichern ein energisches apologetisches Vorgehen von Kirche und Gemeinden, worin er auch die wissenschaftliche Theologie einbezogen wissen wollte. Institutionalisiert wurde die apologetische Arbeit mit der Gründung des Central-Ausschusses für Innere Mission, der vorrangig darauf zielte, Gebildete für die Kirche zurückzugewinnen.
Um die Jahrhundertwende widmeten sich auch andere Organisationen wie Vereine der Inneren Mission und regionale kirchlich-apologetische Kommissionen der praktischen Apologetik. Als Veranstaltungsformen begegneten hier neben einschlägigen Vorträgen vor allem so genannte Instruktions- und Lehrkurse nach britischem und amerikanischem Vorbild.
Institutionalisierung der praktischen Apologetik
Erst nach 1900 kam es, nicht zuletzt durch Kongressvorträge, zu neuen Anstößen für die Institutionalisierung der praktischen Apologetik. Hier wurden Stimmen laut, die nach einer systematischen und organisierten Auseinandersetzung mit geistigen Strömungen verlangten. Auf dem Hintergrund einer Vielzahl apologetischer Aktivitäten von evangelischen Vereinen und Verbänden erwuchs die Idee einer kirchlich-apologetischen Zentralstelle, die diese Arbeit umfassend aufnehmen sollte.
Ein entscheidender Schritt wurde vom Verbandsprotestantismus mit der Einrichtung einer ‚Kommission für Apologetik und Vortragswesen’ im Jahre 1904 getan, dessen Vorsitz ab 1909 Reinhold Seeberg innehatte. Dieses Gremium wandte sich mit Vorträgen und Lehrkursen an die Öffentlichkeit und organisierte die apologetische Arbeit in den Kirchenprovinzen. Damit wurde die entscheidende Grundlage für die spätere ‚Apologetische Centrale’ geschaffen. In Anknüpfung an Wichern stand das apologetische Vorgehen im Zeichen der Abwehr christentumsfeindlicher Einflüsse, aber auch im Zeichen der Volksbildungsarbeit. Ergänzt und unterstützt wurde dieser Arbeitszweig durch die evangelische Pressearbeit der Inneren Mission. Kleinschriftentum wie Flugblätter und Flugschriften, Broschüren und Kalender wurden zu evangelisatorischen und apologetischen Zwecken verbreitet und dienten der Aufklärung, Information und Belehrung.
Entwicklung im Ersten Weltkrieg und Gründung der Apologetischen Centrale
Der Krieg erbrachte für die praktische Apologetik neue Aufgabenstellungen. Es wurde gefordert, dass der Kampf um die Weltanschauung ruhen müsse und die nationale Geschlossenheit Vorrang habe. Dies führte dazu, dass die publizistische Apologetik mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs zunehmend in den Sog des deutsch-nationalen Enthusiasmus geriet. Ihr Kampf galt nunmehr der Abwehr ausländischer Einflüsse und der Verteidigung deutscher Eigeninteressen.
Noch während des Krieges musste der Central-Ausschuss für Innere Mission (CA) zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland zum Missionsland geworden war. Vor diesem Hintergrund entwickelte der Rostocker Theologieprofessor Gerhard Hilbert (1868-1935) ein Programm der Volksmission, das zweierlei umfassen sollte: die Apologetik als gedankliche Klärung und die Evangelisation als Glauben weckende Rede. Daher forderte er Vorträge und publizistische Initiativen, aber auch die Einrichtung einer apologetischen Zentralstelle. Diese wurde 1921 mit der Gründung der ‚Apologetischen Centrale’ durch den CA realisiert, wobei Carl Gunther Schweitzer (1889-1965) mit der Stelle des hauptamtlichen Referenten betraut wurde.
Neukonzeptionierung der apologetischen Arbeit in der Weimarer Republik
Mit der Gründung der Weimarer Republik endete u.a. das Bündnis von Thron und Altar. Nicht nur die Kirchenaustrittsbewegung, sondern auch Okkultismus, Esoterik, freireligiöse und völkisch-religiöse Gruppen sowie politische Ersatzreligionen stellten die praktische Apologetik vor neue Herausforderungen. Religion blieb nicht mehr auf die Kirchen beschränkt. Sie erblühte in einer Vielzahl religiöser Gruppen zu neuem Leben und erhielt in der Verbindung mit politisch orientierten Ersatzsystemen totalitäre – und in völkisch-religiöser Zuspit-zung – mitunter stark antichristliche Züge. Diesen Weltanschauungen und Sekten wollte Schweitzer die Antwort des Glaubens gegenüberstellen. Sein apologetisches Programm wollte neue Wege beschreiten. Ziel war keine Defensiv-Apologetik, wie sie Jahre zuvor betrieben worden war, sondern eine vom Zentrum des Glaubens her angreifende Rechenschaftsablegung. Schweitzer wollte positive Aufbauarbeit leisten. Daher war sein apologetisches Konzept praxisorientiert ausgerichtet: Es sah umfangreiche publizistische Aktivitäten (Vorträge, Flugblätter und Broschüren) vor. Die Apologetik gehörte damit zur öffentlichen Mission.
Die Apologetische Centrale war nicht nur Beobachtungs- und Sammelstelle weltanschaulicher Strömungen und neuer Religionen, sondern auch Auskunftsstelle und Schulungsstätte für kirchliche Mitarbeiter. Die Einrichtung eines Pressearchivs und der Aufbau einer einschlägigen Bibliothek sowie Publikationen wie das Fachblatt ‚Wort und Tat. Hefte der Apologetischen Zentrale für evangelische Weltanschauung und soziale Arbeit’ bildeten eine wichtige Grundlage für die kontinuierliche Beobachtungs- und Auskunftstätigkeit der Apologetischen Centrale, deren Leitung 1932 Walter Künneth (1901-1997) übernahm. In dieser Zeit spielte neben der so genannten ‚Sektenabwehr’ die Auseinandersetzung mit Freidenkern und völkisch-religiösen Gruppen eine immer wichtigere Rolle. Gleichzeit wurde die Laienschulung systematisch aufgenommen. Sie sollte Laien für den Weltanschauungskampf zurüsten.
Ambivalenzen in der Zeit des Nationalsozialismus
Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme änderten sich für die apologetische Arbeit die politischen, gesamtgesellschaftlichen und publizistischen Rahmenbedingungen grundlegend. Der totale Weltanschauungsstaat übte einen immer stärkeren Druck auf die Kirchen aus. So wurden die publizistischen Möglichkeiten der Apologetischen Centrale zunehmend eingeschränkt. Zunächst blieb allerdings die Hoffnung lebendig, dass der ‚nationale Aufbruch’ den Weimarer Weltanschauungspluralismus überwinden und der Kirche zur Festigung ihrer Position in der Öffentlichkeit verhelfen könne. Bereitwillig stellten die Mitarbeiter der Apologetischen Centrale unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers dem Reichsinnen- und Propagandaministerium sowie der Geheimen Staatspolizei Material über die Haltung verschiedener religiöser Gemeinschaften zur Verfügung. Damit erwiesen sie sich – wenngleich nur für kurze Zeit – als Erfüllungsgehilfen im Kampf des NS-Regimes gegen vermeintliche Feinde.
Seit Mai 1933 vollzog die Apologetische Centrale eine entscheidende Wende und diente seither als Geschäftsstelle der Jungreformatorischen Bewegung. Nach der Wahl Ludwig Müllers zum Reichsbischof versuchte Künneth, das Institut aus der Verbandsstruktur der Inneren Mission herauszulösen und es unmittelbar der Reichskirchenregierung zu unterstellen. Die Apologetische Centrale sollte zur ‚Reichszentrale für Apologetik’ ausgebaut werden. Doch die Auseinandersetzungen mit dem deutsch-christlich dominierten CA veranlassten Künneth 1934, die Stelle der ‚Arbeitsgemeinschaft der diakonischen Werke und Verbände’ anzugliedern, die sich auf den Boden des Bekenntnisses und hinter das Notrecht der Bekenntnissynode von Dahlem stellten. 1936 näherte sich Künneth dem Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche an, der das Institut seither finanziell unterstützte.
Am 10. Dezember 1937 wurde die Apologetische Centrale gewaltsam geschlossen. Somit kam der apologetische Arbeitsbereich innerhalb des Verbandsprotestantismus vollständig zum Erliegen. Für die Bekennende Kirche wog die Schließung des Instituts umso schwerer, als sie damit eine ihrer wichtigsten Informationseinrichtungen und Fortbildungsstätten im publizistischen Weltanschauungskampf verloren hatte.
Christliche Apologetik von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Fast 20 Jahre nach Schließung der Apologetischen Centrale wurde das Thema ‚Kirche und Welt’ neu aufgegriffen und in diesem Zusammenhang die praktische Apologetik neu thematisiert. Inzwischen war ‚Apologetik’ zum theologischen Reizwort geworden. Weniger Verteidigung als vielmehr positive Rechenschaftsablage christlichen Glaubens vor der Welt – das sollte Merkmal der neuen Apologetik sein. Zwar wurde auf diesen Begriff bei der Wahl des Namens der neu zu errichtenden Arbeitsstelle verzichtet – sie erhielt die eher umschreibende Bezeichnung ‚Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen’ (EZW) –, gleichwohl war das volksmissionarische Erbe nach wie vor präsent. Sitz der EZW wurde zunächst Stuttgart, ab 1997 Berlin.
Heute versteht sich die EZW als die zentrale wissenschaftliche Studien-, Dokumentations-, Auskunfts- und Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für die religiösen und weltanschaulichen Strömungen der Gegenwart. Sie hat den Auftrag, diese Zeitströmungen zu beobachten und zu beurteilen. Es fällt auf, dass die Notwendigkeit und Begründung einer theologisch verantwortbaren Apologetik unter den Bedingungen von Säkularisierung und neuer Religiosität wieder an Bedeutung gewinnt. Der Blick auf die Geschichte der praktischen Apologetik vom 19. Jahrhundert über die Apologetische Centrale bis in die Gegenwart hinein kann für die Kirche – trotz mancher Irrwege und Aporien – die Erinnerung an die Aufgabe wach halten, in theologischer Verantwortung, in Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Wahrheitsansprüchen im dritten Jahrtausend „Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die in uns ist“ (1.Petr. 3,15).
Literatur:
Matthias Petzold/Michael Nüchtern/Reinhard Hempelmann: Beiträge zu einer christlichen Apologetik, Berlin 1999.
Matthias Pöhlmann: Kampf der Geister. Die Publizistik der ‚Apologetischen Centrale’ (1921-1937), Stuttgart u.a. 1998.
Walter Sparn: Religiöse Aufklärung. Krise und Transformation der christlichen Apologetik im Weltanschauungskampf der Moderne, in: Glauben und Denken 5. 1992, 77-105, 155-164.
Theodor Strohm: Innere Mission, Volksmission, Apologetik. Zum soziokulturellen Selbstver-ständnis der Diakonie. Entwicklungslinien bis 1937, in: Jochen-Christoph Kaiser/Martin Gre-schat (Hg.): Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890-1918, Stuttgart u.a. 1996, 17-40.
Autor: Matthias Pöhlmann / Überarbeitung: Anika Albert