Erziehungshilfe

Kinder- und Jugendhilfe umfasst die Dimensionen der Erziehung, Jugendfürsorge, Jugendpflege und Jugendarbeit, des Handelns mit und für (gefährdete) Kinder und Jugendliche. Sie bilden ein klassisches und großes Feld diakonisch-sozialen Handelns, das mit zur Gründung der Inneren Mission geführt und in den letzten 150 Jahren eine große Ausdehnung, Entwicklung und charakteristische Veränderungen erfahren hat.

Aspekte der Vorgeschichte und Gründung

Das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe wird von der Zielgruppe her konstituiert. Diese unterliegt stets gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und damit auch sich verändernden Sozialisations- und Bildungsaufgaben. So legte die Reformation großen Wert auf Schule und Bildung, im Pietismus prägten sich etwa bei August Hermann Francke pädagogische Konzepte aus. Die Aufklärung brach einem umfassenden Bildungsansatz und der Wissenschaft der Pädagogik Bahn. Seit dem 18. Jahrhundert gesellten sich zu den pädagogischen Herausforderungen neue, durch die gesellschaftlichen und sozialen Umwälzungsprozesse bedingte Probleme, denen insbesondere die ‚Erziehungsprogramme’ der christlichen Erweckungsbewegung entgegenzuwirken versuchten. Hier liegen die Anfänge einer umfassenden evangelischen Kinder- und Jugendhilfe.

Entwicklung im Vormärz bis zur Reichsgründung

Im Blickpunkt der Inneren Mission standen von jeher die Nöte der Kinder und Jugendlichen, verursacht von Pauperismus und beginnender Industrialisierung. Das Engagement für notleidende Kinder und Jugendliche realisierte sich zunächst vor allem in Form der sogenannte ‚Rettungshäuser’, die ihre Wurzeln im Pietismus hatten und ihre bekannteste Gestalt in dem von Johann Hinrich Wichern 1833 in Horn bei Hamburg gegründeten „Rauhen Haus“ fanden. Daneben wurde eine private Familienfürsorge für arme, verwaiste und verwahrloste Kinder organisiert, die sie in Pflege- und Adoptionsfamilien vermittelte und somit Modellcharakter für die moderne Jugendhilfe im 20. Jahrhundert hatte. Zudem entstanden Einrichtungen der Kleinkinderfürsorge, die einen Schwerpunkt der weiblichen christlichen Liebestätigkeit bildete.

Fürsorgeerziehung und Verbandsgründungen im Kaiserreich bis 1914

Auf der Grundlage verschiedener Gesetze zur ‚Zwangserziehung’ straffälliger und sittlich verwahrloster Jugendlicher erfolgte deren Unterbringung in Erziehungsanstalten und Pflegeheimen in Kooperation zwischen Staat und freien Trägern. Inhaltliche Schwerpunkte dieser Einrichtungen bildeten die religiöse Unterweisung sowie die Gewöhnung an Disziplin, Ordnung, Gehorsam, Sauberkeit und vor allem Arbeit, oft in der anstaltseigenen Landwirtschaft. Vor diesem Hintergrund bekam Fürsorgeerziehung zunehmend einen strafenden und stigmatisierenden Charakter.

Auch wenn die Anstaltserziehung bereits in den 1890er Jahren ihre erste (finanzielle) Krise erlebte, nahm die Erziehungs- und Fürsorgearbeit zu Beginn des 20. Jahrhundert generell einen großen Aufschwung. Dieser spiegelt sich nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Etablierung der Sozialpädagogik und der Gründung verschiedener Fach- und Berufsverbände wider.

Jugendwohlfahrt in der Weimarer Republik

In der Zeit der Weimarer Republik wurde die Arbeit der Inneren Mission mit Kindern und Jugendlichen ausgedehnt, stärker institutionalisiert, in Fachverbänden organisiert, differenziert und in ein geordnetes, gesetzlich genau geregeltes Zusammenwirken mit dem Weimarer Wohlfahrtstaat überführt. Von besonderer sozialstaatlicher Bedeutung ist das ‚Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt’ (RJWG) von 1922, das gemeinsam mit anderen gesetzlichen Regelungen erheblich zur Systematisierung und Vereinheitlichung des gesamten Arbeitsfeldes beitrug, wobei der Staat zum Erziehungsträger avancierte. Jedem deutschen Kind wurde das Recht „auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und körperlichen Tüchtigkeit“ zuerkannt. Dabei ging es der Jugendfürsorge um die Förderung des sittlichen Wohls durch Erziehungsmaßnahmen und um den Ersatz oder die Ergänzung elterlicher Erziehung, insbesondere für ‚gefährdete’ und ‚verwahrloste’ Kinder und Jugendliche. Die Jugendpflege richtete sich hingegen an die ‚normale’ Jugend beispielsweise durch rege Vereinstätigkeiten und Jugendverbände, auf die auch die selbstbewusste Jugendbewegung entscheidende Einflüsse ausübte.

Evangelische Kinder- und Jugendhilfe im Nationalsozialismus

Nach der wirtschaftlichen Krise und dem Ende der Weimarer Republik wirkte sich seit 1933 die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik auch auf die konfessionelle Erziehungsarbeit aus. Dabei wurde der damalige Zeitgeist von Zucht, Ordnung, Gehorsam, Liebe zum Vaterland und Erziehung zu körperlicher Ertüchtigung in breiten Kreisen der evangelischen Jugendhilfe zunächst begrüßt. Die neu gegründeten NS-Jugendorganisationen wie der ‚Bund deutscher Mädel’ (BDM) und die ‚Hitler-Jugend’ (HJ) beeinflussten auch die evangelischen Fürsorgeheime und warben dort Mitglieder. In der geschlossenen Jugendfürsorge änderte sich die Belegungspraxis jedoch dahingehend, dass sich hier immer mehr Menschen sammelten, an denen die Machthaber kein Interesse hatten – körperlich und geistig ‚eingeschränkte’, ‚a-normale’ und ‚gefährdete’ Jugendliche. Hierin zeigte sich zunehmend die Unvereinbarkeit zwischen christlichem und nationalsozialistischem Menschenbild. Im Bereich der offenen Jugendhilfe wurde die Vermittlung von Pflegekindern durch den Jugendschutz monopolisiert, außerdem nahm man auf die Konfessionsgleichheit zwischen Pflegekind und Pflegeeltern keine Rücksicht mehr. Alle privaten Adoptionsvermittlungsstellen wurden aufgelöst. Hier und in der halboffenen Kindergartenarbeit verstärkten die evangelischen Träger theologisch und praktisch ihre Gemeindeorientierung, um Übernahmen durch die NSV und gewaltsamen Schließungen entgegenzuwirken, was jedoch nur bedingt gelang.

Neubeginn nach 1945 in Ost und West

Im Mittelpunkt der Bestrebungen für den Wieder- und Neuaufbau evangelischer Jugendhilfe stand die Fürsorge für die Flüchtlingskinder und die durch die Kriegswirren gefährdeten Kinder und Jugendlichen. Große Unterschiede ergaben sich zwischen den westlichen und der sowjetischen Besatzungszone. So konnten etwa viele Arbeitsgebiete im Osten nicht wieder aufgenommen werden, während man im Westen an die abgebrochenen Traditionen der Weimarer Republik sehr rasch wieder anknüpfte.

Entwicklungen der Kinder- und Jugendhilfe  in der DDR

In der DDR wurde der gesamte Bereich der Erziehungsarbeit staatlich monopolisiert und somit in die kirchliche Erziehungsarbeit eingegriffen. Der DDR-Staat versuchte, Kirche und Diakonie aus allen bildungsrelevanten Bereichen auszugrenzen und die ‚bildungsfähige’ Jugend für sich zu vereinnahmen. Sie wurde in der ‚Freien Deutschen Jugend’ (FDJ) organisiert und mit staatlichen Sozialisationsriten – wie etwa der Jugendweihe – bedacht. Kirchliche Kinder- und Jugendarbeit hatte sich fortan vor allem auf Menschen mit Behinderungen zu konzentrieren, was zu einer verstärkten Entwicklung heilpädagogischer Ansätze und Berufe im diakonischen Bereich führte. Lediglich die evangelische Kindergartenarbeit durfte unter staatlicher Aufsicht fortgeführt werden, wobei Kindergärten in der DDR im Gegensatz zur BRD bereits nach dem Zweiten Weltkrieg als allgemeine Bildungsinstitutionen gewertet wurden.

Entwicklungen der Kinder- und Jugendhilfe  in der BRD

Neben der Fortführung von Strukturen aus der Weimarer Zeit entwickelte sich in der BRD eine Fülle von pädagogischen Innovationen. Das 1961 verabschiedete ‚Jugendwohlfahrtsgesetz’ (JWG) ging aus dem RJWG hervor. Die freien Träger waren weiterhin konstitutiver Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe. Die 1960er und 1970er Jahre waren durch eine beispiellose Ausweitung sozialer Arbeit in der BRD geprägt, verbunden mit der Formulierung neuer Ziele, gerade auch in der Jugendhilfe. Besonders der ‚offene’ und der ‚halboffene’ Bereich nahmen zu. Moderne Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik wurden übernommen; die Pädagogik in den Heimen wurde – insbesondere nach den Revolten in den 1960er Jahren – weiterentwickelt und überdacht. Seit den 1980er Jahren vollzog sich auch ein Bewusstseinswandel im Bereich der Kindergartenarbeit: Die Kindertagesstätte wurde nicht mehr als sozialpädagogische Nothilfeeinrichtung, sondern vielmehr als ein für alle Kinder notwendiges Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsangebot angesehen.

Wiedervereinigung

Mit dem ‚Gesetz zur Neuordnung der Kinder- und Jugendhilfe’ (KJHG), das 1991 im gesamten Bundesgebiet gültig wurde, und seiner Orientierung an Beratung und moderner Dienstleistung hat in der Kinder- und Jugendhilfe ein Paradigmenwechsel  – weg von einem obrigkeitsstaatlichen Eingriffsverständnis, hin zu einem sozialstaatlichen Dienstleistungsverhältnis – stattgefunden. In den 1990er Jahren schloss sich daran eine breite Diskussion um die Frage nach Qualitätskriterien in der Jugendhilfe an. Grundsätzlich zeigt sich in der Kinder- und Jugendhilfe die Tendenz, die Familien in die Reflexion einzubeziehen, sie zu stärken und zu unterstützen. Beispielhaft zeigt sich dies in dem neuen Verständnis von Kindergärten als Nachbarschaftszentren.

Ausblick auf Gegenwart und Zukunft der diakonischen Kinder- und Jugendhilfe

Kinder- und Jugendhilfe war und ist ein äußerst dynamisches Arbeitsfeld von Innerer Mission und Diakonie. Auf die sich stetig wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen reagiert die Diakonie mit unterschiedlichen, bedarfsorientierten Angeboten in stationären, teilstationären und offenen Ausprägungen. Was Kinder und Jugendliche heute an Bildungsprozessen und Anpassungsleistungen in der modernen Gesellschaft zu leisten haben, ist ein sehr komplexer Prozess. In diesem müssen sie durch gesellschaftliche Sozialisationsinstanzen neben der Familie unterstützt werden, um sich in Freiheit und Gemeinschaft entfalten zu können. Deshalb hat Kinder- und Jugendhilfe die Aufgabe, gesellschaftlich wirksame Institutionen so weiterzuentwickeln, dass sie Kindern und Jugendlichen Lebensperspektiven eröffnen.

Literatur:

Rainer Bookhagen: Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus. Mobilmachung der Gemeinden. Band 1: 1933-1937, Göttingen 1998, Band 2:#

Diakonisches Werk der EKD (Hg.): Danken und Dienen 1999. Arbeitshilfe für Verkündigung, Gemeindearbeit und Unterricht. Thema: Wir verschaffen der Jugend Gehör, Stuttgart 1999.

Juliane Jacobi: Erziehung als Mission, in: Ursula Röper/ Carola Jüllig (Hg.), Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998, Berlin 1998, 80-89.

Carola Jüllig: Zwischen Rettungshaus und „Fürsorgehöllen“, in: Ursula Röper/ Carola Jüllig (Hg.): Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998, Berlin 1998, 182-191.

Thomas Rauschenbach/Christoph Sachße/Thomas Olk (Hg.): Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch, Frankfurt/M. 1995.

Autorin: Renate Zitt/Überarbeitung: Anika Albert

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