Evangelische Kindergartenarbeit

Seit Johann Friedrich Oberlins Eintrag ins Kirchbuch, „Louise Scheppler née 4. Novembre 1763, touchée 1771, conductrice de la tendre jeunesse et notre servante d’enfants depuis l’an 1779, le 16. juin“, gilt der 16. Juni 1779 als „Geburtstag“ des evangelischen Kindergartens. Das bedeutet nicht, dass es zuvor nicht Bestrebungen gegeben hätte, sich des Kindes fürsorgend anzunehmen. Gemäß biblischem Vorbild und Auftrag waren es freilich insbesondere die Waisen, die der Hilfe der christlichen Gemeinde zur Bewahrung und Rettung ihres Lebens bedurften.

Man wird davon ausgehen müssen, dass diese Hilfe für Waisen und Findelkinder in den Familien geschah. Mag es auch sein, dass auf Grund der Regel des Benedikt von Nursia (480–543) die Hilfe für Kinder sich den Klöstern organisatorisch als Findelkinder- und Waisenhaus verband, so wird doch im Allgemeinen bis zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges die bewahrende Sorge für das Kind im privaten Bereich der Familie geblieben sein. Das Ammenwesen, das in die Zeit vor dem 13. Jahrhundert zurückreicht, belegt das. Was indessen zum Gedanken der Bewahrung und Rettung der Kinder spätestens mit der Reformation hinzugekommen war, war der durch sie besonders geförderte Erziehungs- und Bildungsgedanke, den einhundert Jahre später Johann Amos Comenius (1592–1670) mit dem „Informatorium der Mutterschule“ erstmals grundlegend behandelte.

War auch das pädagogische Konzept des Comenius auf den privaten Bereich bezogen, und zeigte die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges in ihrer Auswirkung eine wachsende Zahl von Waisenhäusern, so waren damit doch zwei elementare Voraussetzungen gegeben. Es waren die Voraussetzungen, nämlich Bewahrung und Rettung auf der einen und Erziehung und Bildung auf der anderen Seite, die es brauchte, dass etwa ein halbes Jahrhundert nach Comenius und nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges August Hermann Francke (1663–1727) mit seiner Waisenhausstiftung so etwas wie eine neue Zeit in der Fürsorge für Kinder eröffnen konnte. Ließ die Frömmigkeit des Pietismus das Kind und seinen Bedarf an Erziehung und Bildung ebenso wie an Bewahrung und Fürsorge neu in den Blick rücken, so waren es Aufklärung und Industrialisierung, die diesen Blick ganz besonders auf das Kleinkind, das Kind im Alter von zwei bis sechs Jahren, mithin das Kind im Vorschulalter lenkten. Und mit Johann Friedrich Oberlin (1740–1826) und seiner Mitarbeiterin Louise Scheppler (1763–1837) sowie Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) waren es eine Frau und zwei Männer, die die Grundlagen der weiteren Entwicklung evangelischer Kinderpflegearbeit schufen. Dieser lieferte mit seinem Prinzip der Anschauung und der Herausstellung der Familie als Modell der Erziehungsarbeit – etwa in „Lienhard und Gertrud“ und in „Das Buch der Mütter“ – das pädagogische Konzept und Oberlin gemeinsam mit Scheppler das von den Erfahrungen im Elsässer Ban de la Roche (Steintal) geprägte Praxisfeld in der Gemeinde. Es erscheint darum müßig, darüber sich auseinandersetzen zu wollen, wem der Vorrang gebührt bei der Antwort auf die Frage, wer der „Gründer“ des evangelischen Kindergartens gewesen sei. Seine weitere Entwicklung ist ohne diese drei nicht denkbar.

Kindergarten hieß das, was da geschaffen war, noch nicht. Kleinkinderbewahranstalt, Kleinkinderschule oder auch Warteschule waren die gängigen Begriffe in den deutschen Ländern für die neue Einrichtung, deren Ausbreitung, nicht ohne Einflüsse aus Großbritannien und Frankreich, im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts allenthalben einem Siegeszug glich. Um 1840 waren etwa 240 von Kirchengemeinden oder meist gar von zu diesem Zweck ins Leben gerufenen Vereinen gegründete und als evangelisch zu bezeichnende Einrichtungen zu zählen. Zu dieser stürmischen Entwicklung gehört auch die Gründung einer ersten „Monatsschrift für das Haus und die Kleinkinderschule“ durch den Darmstädter Lehrer und Stadtverordneten Dr. Johannes Fölsing (1818–1882). Die von ihm herausgegebenen „Erziehungsblätter“ waren der Beginn einer Publikationsreihe, die als „Die christliche Kleinkinderschule“ (1870–1883) und „Die christliche Kleinkinderpflege“ (1896–1922) sowie „Die christliche Kinderpflege“ (1923–1941) und „Die evangelische Kinderpflege“(1950–1971) ihren Fortgang nahm und seit 1972 den Namen „Theorie und Praxis der Sozialpädagogik“ führt.

Obwohl mit Beginn dieser Entwicklung der Warte- oder Kleinkinderschulen die unteren Schulbehörden von den Landesregierungen zur Errichtung solcher Anstalten angehalten wurden, waren sie, aus Spenden finanziert, eine Angelegenheit der „freien Liebestätigkeit“ und sollten nach der Gründung des Central-Ausschusses für Innere Mission diesem angehören. Grundlegend wurde – wenn auch nur für Preußen, so damit doch für den größten und gewichtigsten Teil des Deutschen Reiches – die Staatsministerialinstruktion vom 31. Dezember 1839 für den Fortgang der Arbeit als Teil des Sozial- und des Bildungswesens. Sie stellte nicht nur eine Anerkennung der Einrichtungen dar, sondern unterstellte sie auch der staatlichen Aufsicht hinsichtlich der „wissenschaftlichen“ wie „sittlichen“ Qualifikation der Leitung wie des übrigen Personals.

Damit war indessen die Konfliktlinie geradezu klassisch beschrieben. Sie verlief als Dissens zwischen den Vorstellungen von dem, was „sittlich“ geboten war, auf Seiten des Kindergartens, seines Betreibers, seiner Leitung, seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der einen und denen der Aufsichtsbehörde auf der anderen Seite. Und diese Linie war bei einer zunehmend konservativ gesinnten und orthodoxer Konfessionalität verpflichteten Regierung in Preußen in dem Augenblick gezogen, als einer Entwicklung der Warteschulen und Kleinkinderbewahranstalten, nunmehr durch Friedrich Fröbel (1782–1852) als „Kindergarten“ nicht mehr in erster Linie christlich-kirchlich sondern pädagogisch-bildungsorientiert ausgerichtet, unterstellt wurde, Teil eines „fröbelschen socialistischen Systems“ und auf „die Heranbildung der Jugend zum Atheismus berechnet“ zu sein. Die Aufsichtsbehörde in Preußen, das Ministerium der geistlichen, Unterrichts und Medicinalangelegenheiten unter Minister Carl Otto von Raumer (1805–1859), untersagte am 7. August 1851 den Betrieb von „Kindergärten“. Neun Jahre war dieser „Raumersche Erlass“ in Kraft, bis er am 17. April 1860 aufgehoben wurde.

Was sich mit dieser Parteinahme des Staates für die christliche Warteschule anzeigte, war ein gespanntes, jedenfalls ungeklärtes Verhältnis von einer sozialbetreuenden, sich christlich-kirchlich verstehenden und dementsprechend einem Bild der Familie als rechtem Erziehungsort verpflichteten zu einer Arbeit, die vorrangig eine Bildungsaufgabe am Kind über die Familie hinaus auf die Schule hin erfüllen wollte. Vor diesem Hintergrund und durch die Tatsache, dass zu Anfang des 20. Jahrhunderts „Das Jahrhundert des Kindes“ proklamiert wurde und eine auf Fröbel sich berufende reformpädagogische Bestrebung Raum gewann, erklärt sich eine Formierung der Kräfte auf Seiten der evangelischen Kirche und ihres inzwischen etablierten Central-Ausschusses für Innere Mission, die den „von liberaler, humanitärer, jüdischer und sozialdemokratischer Seite erhobenen Forderungen“ meinten entgegentreten zu müssen. Es begann die verbandliche Organisation der Interessen. Zunächst wurde die Konferenz für christliche Kinderpflege gegründet, welche vor allem die Anliegen der, wie man sagte, Berufsarbeiterinnen, der Kindergartenschwestern vertrat, die bis dahin in erster Linie Diakonissen waren. Seit ihrer Begründung durch Friederike (geb. Münster, 1800–1842) und Theodor Fliedner (1800–1864) waren es hauptsächlich die Diakonissenmutterhäuser, die in der Arbeit tätig waren. Vor allem Diakonissen waren die Kinderschwestern, und ihre Mutterhäuser waren es, die in den von ihnen errichteten Seminaren, den Kleinkinderlehrerinnenseminaren, für die Ausbildung der Diakonissen Sorge getragen hatten. Das sollte so bleiben – die „Erziehungsarbeit in evangelischem Sinn und im Unterschied von anders gerichteten Bestrebungen“ sollte gesichert werden.

Als nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Monarchie und der „Einheit von Thron und Altar“ sich die Republik von Weimar konstituierte und der erste deutsche Sozialstaat organisierte, war nicht nur großer wirtschaftlicher Not zu begegnen, sondern die evangelische Kindergartenarbeit sah sich auch herausgefordert, ihren Platz in dem neuen religionsneutralen Staat zu behaupten, der jetzt, ganz im Gegensatz zum seinerzeitigen „Raumerschen Erlass“, das Interesse hatte, verstärkt auch den Erkenntnissen und Entwicklungen der Pädagogik Raum zu geben und den Besuch eines Kindergartens als vorschulischer Bildungseinrichtung verpflichtend zu machen. Das ließ die Reichsschulkonferenz erkennen, die im Juni 1920 in Berlin tagte. Auf ihr wurde auf der einen Seite dafür gefochten und auf der anderen von den Vertretern der in der Inneren Mission und ihrem Evangelischen Reichs-Erziehungsverband für den freiwillig zu besuchenden, in freier Trägerschaft sich befindenden Kindergarten, der den Forderungen der Familie und auch der nach religiöser Erziehung von Seiten der Träger am ehesten entspräche, insofern er eine in erster Linie soziale Einrichtung sei. Familienergänzende Erziehung war der diese Position kennzeichnende Begriff.

Ganz entsprechend der Tradition und besonders unter Rückgriff auf Johann Hinrich Wicherns (1808–1881) Vorstellung davon, dass die Einrichtungen der Erziehungsfürsorge „Nachbildungen“ der Familie zu sein haben, wo diese als Erziehungsfaktor ganz oder teilweise ausfalle, wurde den reformpädagogischen Anfragen mit Abwehr begegnet. Gleichzeitig wurden die Optionen der Wohlfahrtspolitik der nun ideell wie intentional durch Pluralität gekennzeichneten Republik von Weimar erfolgreich genutzt und mitgestaltet. Die Kinderpflegearbeit wurde Teil der Wohlfahrtspflege, nicht der Bildung, und unterstand entsprechender Aufsicht des Reichsministeriums des Innern. Ihre gesetzlichen Rahmenbedingungen sollten sich mit Wirkung vom 1. April 1924 im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz finden.

Um als „familienergänzende Erziehungseinrichtung“, dessen „sozialer Charakter“ gewahrt bleiben sollte, allenthalben in der Öffentlichkeit und vor den Behörden „einheitlich vertreten“ zu sein, organisierten sich nunmehr die Träger der evangelischen Kindergärten eigenständig neben der sich vor allem als Verband der Ausbildungsträger verstehenden Konferenz für christliche Kinderpflege und dem bald als Berufsverband gegründeten Reichsverband evangelischer Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen zunächst als Evangelischer Reichsverband für Kinderpflege (1922). Nach einem schwierigen Abstimmungsprozess der drei Fachverbände untereinander, mit dem Ziel der Gründung einer gemeinsamen Interessenvertretung und damit einer „strafferen Zusammenfassung“ der gesamten Kinderpflegearbeit, entstand 1928 die Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege.

Zur Vermeidung von Verwechselungen änderte die Konferenz für Christliche Kinderpflege ihren Namen in Deutscher Verband der Ausbildungsstätten für evangelische Kinderpflege; der Reichsverband evangelischer Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen wurde Verband der evangelischen Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen Deutschlands; und der Evangelische Reichsverband für Kinderpflege nannte sich nun Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands.

Zum 150-jährigen Jubiläum der evangelischen Kindergartenarbeit am 16. Juni 1929 stand nun gerade die Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands als kompetente und anerkannte Vertretung der Arbeit im Vordergrund. Die Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege hatte bereits zu diesem Zeitpunkt, nicht zuletzt aufgrund der ausgeprägten Persönlichkeiten an der Spitze der anderen Verbände, kaum Bedeutung. Das einer Vertretung gemeinsamer Interessen entsprechende Gewicht sollte die Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege erst nach Ende des „Dritten Reiches“ als Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Kinderpflege und später Evangelische Bundesarbeitsgemeinschaft für Sozialpädagogik im Kindesalter (EBASKA) erhalten. Was der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands gegen Ende der Weimarer Republik Gewicht gab, war der Umfang der praktischen Arbeit, die sie vertrat. Man zählte zu diesem Zeitpunkt etwa 2.350 evangelische Kindergärten mit 167.600 Plätzen und 3.300 Mitarbeiterinnen.

Dass diese Zahl und damit die Arbeit wachsen und die Anerkennung, wenn auch nicht von der Art wie zu Zeiten des „Raumerschen Erlasses“, so doch zweifelsfrei sein werde, das erwartete die aus eigener Sicht nun wirkungsvoll vertretene evangelische Kinderpflegearbeit, als mit dem 31. Januar 1933 die Machtergreifung des NS-Regimes und die „Umgestaltung des deutschen Staats- und Kulturlebens“ einsetzte. Dass diese Umgestaltung auf Krieg, Zerstörung, Mord und Vernichtung hinauslaufen sollte, wusste oder ahnte auch nur zu diesem Zeitpunkt niemand.

Indessen spätestens 1935 mussten auch in der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands alle Erwartungen enttäuscht sein. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), vom „Führer“ zuständig erklärt „für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge“, hatte, unterstützt von der NSDAP, allenthalben deutlich gemacht, was sie auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege, mithin auch der Kindergärten, anstrebe, nämlich die „einzige Organisation“ zu sein. Diesen „Totalitätsanspruch“ suchte sie, verbunden mit der Forderung einer „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ und der Behauptung eines Rechtes der NSDAP zur „Menschenführung“, mit wachsendem Druck und zunehmender Radikalität durchzusetzen. Unmissverständlich wurde mit dem Vorwurf politischer Unzuverlässigkeit unter Hinweis auf das „Kommunistengesetz“, die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, und dementsprechenden Polizeieinsätzen agiert.

Kindergärten wurde auf behördlichem Wege, mithin im Verfahren legal, die Genehmigung entzogen, das heißt sie wurden geschlossen, um sofort von der NSV übernommen und wieder eröffnet zu werden. Dasselbe konnte auch mit dem Hinweis auf die Staatsministerialinstruktion vom 31. Dezember 1839 und die nationalsozialistischen Erziehungsprinzipien geschehen, denen eine konfessionelle Erziehung in keinem Fall genüge und insofern nicht gewollt sei und dementsprechend kein Bedarf bestehe. Darüber hinaus wurde über die Steuergesetzgebung ebenso wie über das gesetzliche Verbot jeglicher Sammlungen außerhalb eines Gottesdienstes und über die staatlich gelenkten Finanzabteilungen bei den Kirchenbehörden versucht, die Finanzierung evangelischer Kindergärten in Frage zu stellen. Ohne durchschlagenden Erfolg, obwohl der „Führer“ selbst eine Radikalisierung in der Sache betrieben und mehrfach unter dem Jubel seiner Zuhörer- und Gefolgschaft erklärt hatte: „Das Kind bilden wir!“ und „Wir nehmen ihnen die Kinder weg!“.

Auch ein von der NSV als Planwirtschaftliches Abkommen mit der Inneren Mission ausgegebenes Vorhaben führte nicht zu dem von den Machthabern und ihrem „sozialistischen Arm“, der NSV, erstrebten Ziel. Was sie erreicht hatte und womit sie dem durch die kriegsbedingte Rüstungsproduktion und einer, entgegen der eigenen Mutter-Familien-Ideologie, dementsprechenden Notwendigkeit zur Beschäftigung von Müttern erzeugten Bedarf entgegen kam, war die Einrichtung von 14.828 Kindergärten mit 689.154 verfügbaren Plätzen bis zum Jahr 1941.

Das war das Jahr, in dem mit einem gemeinsamen Erlass des Reichsministeriums des Innern und des „Stellvertreters des Führers“ vom 21. März 1941 alle mit der Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche und dem Central-Ausschuss für Innere Mission abgestimmten Bemühungen der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands und ihres unermüdlichen Vorsitzenden, des Pfarrers Hermann von Wicht (1879–1942), unter Berufung auf die nach wie vor bestehende Rechtslage und die Tradition eine rechtliche Sicherung der Arbeit zu erreichen, endgültig fehlgeschlagen waren. Zwar hatte sich die Kindergartenarbeit „in den Raum der Kirche“ zurückgezogen. Sie hatte unter Nutzung der religionspädagogischen Konzepte, die von der Bekennenden Kirche seit spätestens 1936 erarbeitet worden waren, ein Qualifizierungs- und Katechetisierungsprogramm für Berufsarbeiterinnen, Eltern und Kinder entwickelt und begonnen durchzuführen. Damit sollte der „Entkonfessionalisierung“, die tatsächlich einer Entchristlichung gleichkam, entgegengewirkt und gleichzeitig die Arbeit des Kindergartens in der Gemeinde so verankert werden, dass sie auch bei Übergabe der Einrichtung an die NSV, als Gemeindearbeit mit als Gemeindehelferinnen qualifizierten Kindergärtnerinnen erhalten bliebe.

Das Ende der bisherigen Arbeit schien gekommen, als dekretiert wurde: „Die Übernahme sonstiger Kindertagesstätten ist ausschließlich Aufgabe der NSV.“ Und nur wenig später, am 11. Mai 1941, hatte „Hitlers bester Funktionär“, Martin Bormann (1900–1945), als „Stellvertreter des Führers“ gesondert vertraulich verfügt, dass mit besagtem Erlass, da „Staat und Bewegung“ konfessionelle Kindergärten mit einer Erziehung „nach kirchlichen Gesichtspunkten“ nicht dulden könnten, „diese Frage endgültig bereinigt werden“ kann, „zweckmäßigerweise dadurch, dass den Trägern konfessioneller Kinder-Fürsorgeeinrichtungen die etwa bisher erteilte staatliche Genehmigung entzogen wird“. Das war die Umkehrung des „Raumerschen Erlasses“ in einen national-sozialistischer Weltanschauung entsprechenden Erlass.

Indessen, auch wenn jetzt „Die christliche Kinderpflege“, wie alle kirchlichen und nicht genehmen Presseerzeugnisse, vorgeblich aus kriegsbedingten Gründen ihr Erscheinen einstellen musste, das Ende der Kindergartenarbeit und ihres bisherigen Weges zwischen „Anpassung und Ergebenheit“ seit der Machtergreifung des NS-Regimes war das nicht. Die Ursache dafür war nicht das Programm einer verstärkten biblischen Unterweisung in Kindergarten und Gemeinde, mit dem sich die Kindergartenarbeit entsprechend der von Deutscher Evangelischer Kirche und Central-Ausschuss für Innere Mission erarbeiteten und am 12. Juli 1940 erklärten Grundsätze zunehmend als „Wesens- und Lebensäußerung“ der Kirche erwies. Zwar gingen im Verlauf des Jahres 1941 etwa 780 evangelische Kindergärten an die NSV verloren, sodass seit 1934 die Zahl der an die NSV übergegangenen Einrichtungen insgesamt auf etwa 1.270 Kindergärten angestiegen war. Das war knapp die Hälfte von seinerzeit etwa 2.770 Kindertagesstätten.

Aber es war der Krieg und seine Rückkehr dahin, von wo er ausgegangen war, der am 30. September 1942 das Reichsministerium des Innern nach Weisung aus der Partei-Kanzlei veranlasste, die Einstellung aller Maßnahmen zur Übergabe „sonstiger Kindertagesstätten“ an die NSV anzuordnen. Das machte alle weiteren Erwägungen, auf der Seite des Regimes und seiner Akteure ebenso wie auf der der evangelischen Kindergärten, hinfällig. Der auf eine „unconditional surrender“ hin geführte Bombenkrieg über Deutschland führte mit seiner Vernichtung von Städten und Menschenleben auch zur Zerstörung von etwa 200 evangelischen Einrichtungen, von denen annähernd 50 Kindergärten ihren Betrieb einstellen mussten.

Eine Bilanz der in der Zeit des NS-Regime erlittenen Verluste ist für die evangelische Kindergartenarbeit nicht nachzuweisen. Nur annähernd lässt sich ein Verlust von etwa der Hälfte der zum Ende der Weimarer Republik gezählten evangelischen Kindergärten ermitteln. Auch die Kindergartenarbeit wandte sich sogleich „nach dem Krieg“ unter dem biblischen Ruf zur „Barmherzigkeit als Lebensform der Kirche“ der Not der Menschen zu. Unmittelbar nachdem die Alliierten Besatzungsmächte die „Nazieinrichtungen“ abgeschafft und alle Gesetze, „auf denen das Nazi-Regime beruhte“, aufgehoben hatten, wurde ein „fröhlicher Neuanfang“ evangelischer Kinderpflegearbeit ausgerufen. Es war keine Zeit für Bilanzen. Anfang 1947 zählte man, noch ohne in „Ost“ und „West“ zu trennen, im Gebiet des unter Alliierter Besatzung stehenden Deutschland 3.400 evangelische Kindergärten. Das sind über 1.000 mehr als zu Beginn des in der Katastrophe untergegangenen „Tausend-jährigen Reiches“. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt war klar, dass „das Gesicht des evangelischen Kindergartens“ nicht mehr nur eines sein würde.

In der – seit 1949 – Bundesrepublik Deutschland, dem „Westen“, erfolgte auch in der Kindergartenarbeit ein rasanter „Aufbau unserer lebendigen Arbeitskräfte“. Einer „kirchlichen Verfestigung der Arbeit“ wollte man entgegenwirken und „weltlich reden, dass die Welt versteht, was wir meinen“. Standen zunächst wiederum soziale Fragen – materielle, gesundheitliche und soziale Not als „Nachkriegsschäden“ – im Vordergrund, so wurde doch Nachholbedarf erkannt, und man stellte sich den pädagogischen und religionspädagogischen Fragen, die in der Zeit der Weimarer Republik jedenfalls kaum hinreichend bedacht worden waren.

Aber auch wenn darüber hinaus die Elternarbeit in besonderer Weise Beachtung fand und vertieft wurde, blieb die evangelische Kindergartenarbeit im Rahmen der Jugendwohlfahrtsgesetzgebung und des zu neuer Wertschätzung gelangten Subsidiaritätsprinzips ein familienergänzendes, in erster Linie sozialfürsorgerisch bestimmtes Erziehungsangebot.

Das änderte sich, als mit den Umbrüchen zum Ende der 1960er Jahre mit den Fragen der „antiautoritären Erziehung“ nicht nur in „Kinderläden“ neue Formen der Kinderarbeit erprobt wurden, sondern auch eine bildungspolitische Diskussion geführt wurde, der sich auch die evangelische Kindergartenarbeit stellte. Sie legte, mit ihrem Trägerverband, der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände, ihrem Ausbildungsstättenverband, dem Deutschen Verband der Ausbildungsstätten für evangelische Kinderpflege, und ihrem Mitarbeiterinnenverband, dem Bundesverband Evangelischer Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen, als Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Kinderpflege gemeinsam mit dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Bericht zur Lage vor.

Darin forderte man mit rund 6.000 Einrichtungen, das bedeutete einen Anteil von etwa 35 Prozent aller Kindertagesstätten der Bundesrepublik Deutschland, nicht nur als Verpflichtung der Kirche die Wahrung von Würde und Wert eines Kindes und behauptete den evangelischen Kindergarten als sozialpädagogische Aufgabe und Glied in einer Kette von Hilfen, sondern begrüßte auch mit der gerade veröffentlichten „Strukturskizze für das deutsche Bildungswesen“ der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates die Einbeziehung des Kindergartens als Elementarbereich und freiwilliges Bildungsangebot in das allgemeine Bildungswesen.

Damit war der Anfang einer Entwicklung angezeigt, in deren Verlauf ein der Lebenswelt des Kindes verpflichtetes pädagogisches und religionspädagogisches Konzept den evangelischen Kindergarten weithin als sozialpädagogische Bildungseinrichtung der Evangelischen Kirche im Elementarbereich etablierte. Wesentlich gesteuert wurde diese Entwicklung von einer Verbandsarbeit, deren Neuausrichtung sich 1974 auch in einer Namensänderung niederschlug.

Die bisherige Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Kinderpflege – zuvor Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege – wurde die EBASKA und die Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände wurde die Bundesvereinigung für Evangelische Tageseinrichtungen für Kinder (BETA).

Anders im „Osten“, der sowjetischen Besatzungszone und – seit 1949 – Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Hier war die Arbeit nicht verbandlich geordnet. Der Staat beanspruchte das Erziehungsrecht. Die evangelischen Kindergärten, deren Zahl von etwa dreihundert im Verlauf der Geschichte der DDR fast unverändert blieb, waren Teil der Erziehungsarbeit, die von den Kirchlichen Erziehungskammern, wie sie sich in der Bekennenden Kirche gebildet hatten, oder von den Fachreferaten bei den Behörden der Landeskirchen verantwortet wurde.

Sie wurde als „Seelsorgedienst“ an den Kindern der Gemeinde verstanden und knüpfte damit auch konzeptionell – dabei sollte die materielle Mangelsituation und ihre Auswirkung auf die Erziehungspraxis im Alltag auch zukünftig bestimmend bleiben – nahezu unmittelbar an das an, was während des „Dritten Reichs“ von der Bekennenden Kirche als „kirchliche Unterweisung“ für die evangelische Kindergartenarbeit und ihren „Rückzug in den Raum der Kirche“ erarbeitet worden war.

So war denn 1979, nach dem „Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus“ und dem „umfassenden Aufbau des Sozialismus“ in der Zeit der „Gestaltung der Sozialistischen Gesellschaft“, die Beschreibung von „Aufgabe und Ziel im evangelischen Kindergarten“, die der Facharbeitskreis Evangelische Kinderpflege der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen vorlegte, das Ergebnis eines Verständigungsprozesses über die Frage nach dem evangelischen Kindergarten im Zusammenhang von Zeugnis und Dienst der Gemeinde, die sich zunehmend als Lerngemeinschaft verstand.

Der evangelische Kindergarten war danach aus der Verantwortung der Gemeinde für ihre getauften und ungetauften Kinder, mithin als „kirchlicher Auftrag“, ein Angebot familienergänzender Gestaltung gemeinsamen Lebens „vom Glauben her“, wobei auch „die gesellschaftlichen Erfordernisse“ im Blick sind. Daraus waren die Befähigungen der „Kinderdiakonin“ abzuleiten, bestimmte sich deren Aus- und Weiterbildung, die das Ziel hatte, ihr eine „Verwirklichung des Verkündigungsauftrages“ mit Blick auf das Kind, die Eltern und die Gesellschaft zu eröffnen.

Die Tatsache, dass die BETA und der Facharbeitskreis Evangelische Kinderpflege in regem fachlichen Austausch standen, sich regelmäßig zu Tagungen in der Auguststraße in Berlin-Mitte, dem Sitz des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, oder in der Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee trafen, wird wesentlich zum Gelingen der Zusammenführung der evangelischen Kinderpflegearbeit aus beiden deutschen Staaten nach der Gewinnung der staatlichen Einheit im Jahre 1990 beigetragen haben. Und das sowohl organisatorisch-strukturell als auch inhaltlich konzeptionell.

Mit der Bildung von Fachverbänden für evangelische Kinderpflege in den nunmehr Landeskirchen des ehedem Bundes der Evangelischen Kirchen ging der Facharbeitskreis Evangelische Kinderpflege in der BETA auf. Und das in besonderer Weise als Zeugnis und Dienst dem kirchlichen Auftrag zum Aufbau einer lernenden Gemeinde verpflichtete Konzept gab der an den Fragestellungen einer pluralistischen Gesellschaft orientierten, in den gesellschaftlichen Umbrüchen und angesichts einer zunehmenden Ökonomisierung des Sozialen besonderen Herausforderungen hinsichtlich ihrer Bildungs- und Erziehungskonzeption ausgesetzten evangelischen Kindergartenarbeit wesentliche Impulse. So konnte man 1997, anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der BETA für die mehr als 9.000 evangelischen Kindergärten mit ihren rund 500.000 Plätzen etwa resümieren: Evangelische Kindergärten sind für Kinder und Eltern Orte elementarer Begegnung mit dem christlichen Glauben und damit ein gesellschafts-bezogener Beitrag zur Vermittlung von Werten, Sinndeutungen, Hoffnungen und Orientierungen; es sind, mit allen Veränderungen im Verlaufe ihrer Geschichte, unter den Bedingungen ihrer Zeit Orte der Erprobung der Wahrheit des Wortes Jesu (Lk. 18,17): „Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“

Literatur:

Edith Barow-Bernstorff/Karl-Heinz Günther/Margot Krecker/Heinz Schuffenhauer (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Vorschulerziehung. Berlin 31969, 277–290.

Manfred Berger: Vorschulerziehung im Nationalsozialismus. Recherchen zur Situation des Kindergartenwesens 1933–1945. Weinheim/Basel 1986.

Rainer Bookhagen: Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus. Bd. 1: 1933 bis 1937. Mobilmachung der Gemeinden. Göttingen 1998; Bd. 2: 1937 bis 1945. Rückzug in den Raum der Kirche. Göttingen 2002.

Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder (Hg.): Bündnis für Kinder. 1922–1997. Festschrift zur Arbeit des Fachverbandes und seiner Mitgliedseinrichtungen anlässlich des 75jährigen Jubiläums. Bremen 1997.

Günter Erning/Karl Neumann/Jürgen Reyer (Hg.): Geschichte des Kindergartens. Bd. 1: Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Freiburg 1987; Bd. 2: Institutionelle Aspekte, systematische Perspektiven, Entwicklungsverläufe. Freiburg 1987.

Johannes Gehring (Hg.): Die evangelische Kinderpflege. Denkschrift zu ihrem 150jährigen Jubiläum. Im Auftrag der Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege hg. von J. Gehring. Langensalza/Berlin/Leipzig 1929.

Wilma Grossmann: KinderGarten. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik. Weinheim/Basel 1987.

Egbert Haug-Zapp (Hg.): Historisches zu gegenwärtigen Aufgaben der Sozialpädagogik. 100 Jahre evangelische Fachzeitschrift TPS. Bielefeld 1992.

Erika Hofmann: Vorschulerziehung in Deutschland. Historische Entwicklung im Abriss Witten 1971.

Petra Larass (Hg.): Kindsein kein Kinderspiel. Das Jahrhundert des Kindes (1900-#1999). Ausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle 9. Juli bis 26. November 2000. (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle 7). Halle 2000.

Monika Müller-Rieger (Hg.): „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht ...“. Zur Geschichte des Kindergartens in der DDR. Begleitband zur Wanderausstellung. Deutsches Hygiene-Museum Dresden vom 4. Juli bis 28. September 1997. Berlin 1997.

Erich Psczolla (Hg.): Unser Dienst an den Kindern. Festschrift zur 175-Jahr-Feier der Evangelischen Kinderpflege. Witten 1954.

Jürgen Reyer: Wenn die Mütter arbeiten gingen. Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkindererziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Köln 1983.

Gerhard Schnitzspahn: Der evangelische Kindergarten. Ein religionspädagogischer Beitrag zur Neubestimmung des evangelischen Profils. Stuttgart/Berlin/Köln 1999.

Autor: Rainer Bookhagen

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