Körperliche Behinderung

Ausgangsbedingungen und Anfänge der Arbeit

Die Anfänge der Körperbehindertenfürsorge im Deutschen Reich liegen im ausgehenden 19. Jahrhundert und waren eine Folge der sozialpolitischen Probleme des Kaiserreichs und der Industrialisierung. Schlechte Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen verursachten Krankheiten, die häufig zu einer körperlichen Schädigung führten.

Der persönlichen Betroffenheit und dem Engagement einzelner Theologen war es zu verdanken, dass auch die Innere Mission die wachsende gesellschaftliche Notwendigkeit erkannte und sich um Körperbehinderte kümmerte. Richtungsweisend für den Aufbau der evangelischen Körperbehindertenfürsorge war die Eröffnung  der ersten „Krüppelabteilung“ des Oberlinhauses in Nowawes bei Potsdam durch Pastor Hoppe im Jahre 1886. Diesem Haus war auch die erste „Taubstummenblindenanstalt“ in Deutschland angeschlossen.

Körperbehinderte hatten kein gesetzliches Anrecht

Die Armengesetzgebung in Preußen hatte 1891 zwar Regelungen zur Behandlung und Betreuung von „hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen und Blinden“ getroffen, doch blieben körperbehinderte Frauen, Männer und Kinder davon ausgenommen. Sie hatten kein gesetzliches Anrecht auf schulische und berufliche Ausbildung oder medizinische Behandlung. Ihr finanzieller Bedarf wurde von Angehörigen, aus kirchlichen Spenden und teilweise durch Zuschüsse der Armenfürsorge gedeckt. Als Trägerin von Gehörlosen- und Blindenanstalten betätigte sich die Innere Mission nur vereinzelt.

Im Jahre 1900 bestanden 13 evangelische „Vollkrüppelheime“, die einen einheitlichen Ansatz von Rehabilitation vertraten, der vier ineinander übergehende Bereiche umfasste: Schule, orthopädische Behandlung, Berufsausbildung und Werkstätten. Im Mittelpunkt der „Krüppelfürsorge“ standen bildungsfähige Kinder und Jugendliche, die in den Heimen medizinisch versorgt, fachlich ausgebildet, pädagogisch begleitet und im Sinne des Protestantismus gelenkt wurden. 1901 gründete sich die lose „Vereinigung der Krüppelanstalten der Inneren Mission“, die zweijährig als „Konferenz der deutschen Anstalten für Krüppelfürsorge“ tagte.

Ausbreitung der Arbeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs

Erst durch eine von dem Orthopäden Biesalski angeregte Zählung aller körperlich beeinträchtigten Kinder in Preußen in den Jahren 1906/07 wurde die bis dahin von Staat und Öffentlichkeit zurückhaltend betrachtete konfessionelle „Krüppelfürsorge“ auf eine nationalpolitische Ebene gehoben. Ein wesentlicher Grund war die mögliche Erwerbsfähigkeit, welche die Armenfürsorge entlasten sollte. Im Unterschied zur Arbeit der Inneren Mission, die ihr Augenmerk auf die freiwillige christliche Liebestätigkeit und auf Spenden gerichtet hatte, standen nun Ökonomie und Ausbildungssysteme im Vordergrund. In allen Reichsgebieten sprachen sich die politischen Instanzen nun mehrheitlich für eine ärztlich geleitete „Krüppelfürsorge“ aus. Auch evangelische Einrichtungen begannen, Kosten-Nutzen-Rechnungen anzustellen, um aus Almosenempfängern Steuerzahler zu machen.

Die bereits fortgeschrittenen Diskussionen über eine gesetzliche Kodifizierung der Krüppelfürsorge beendete der Erste Weltkrieg. In vielen Einrichtungen der Inneren Mission wurden Reservelazarette für die bis dahin kaum vertretenen „Kriegskrüppel“ eingerichtet. Die zahllosen Kriegsverletzten führten zu einer raschen Weiterentwicklung von Orthopädie, Hilfsmitteltechniken und Rehabilitationsmaßnahmen, wobei die „Friedenskrüppelfürsorge“ als Vorbild diente. Die finanziell stark gebeutelte „Kriegskrüppelfürsorge“ erhielt einen neuen gesellschaftlichen Stellenwert, da sie als nationale Aufgabe verstanden wurde, wobei scharf zwischen einem „nützlichen“ und einem „unnützen Krüppel“ unterschieden wurde.

Um die Zusammenarbeit evangelischer Anstalten zu fördern, wurde 1916 der „Verband der deutschen evangelischen Krüppelheime der Inneren Mission“, dem 25 Heime angeschlossen waren, gegründet. Er tagte im Wechsel mit der 1909 gegründeten überwiegend medizinisch-orthopädisch arbeitenden „Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge“. In dessen Vorstand waren immer Vertreter der Inneren Mission, trotz unterschiedlicher Arbeitsansätze und Konkurrenzen, wie eine gesetzliche Regelung der Krüppelfürsorge in Preußen zu erreichen sei, vertreten.

Die Krise in der Weimarer Republik

Nach kontroversen Debatten zwischen konfessionellen, staatlichen und ärztlichen Vertretern trat am 1. Oktober 1920 das preußische Krüppelfürsorgegesetz in Kraft, das allen „Krüppeln“ unter 18 Jahren einen Rechtsanspruch auf medizinische Behandlung, schulische und berufliche Ausbildung zusicherte und eine allgemeine Meldepflicht einführte. Erstmalig wurde die Erwerbsbefähigung in den Vordergrund gerückt, die als Erziehungsmittel und als Erziehungsziel galt.

Die bisher karitativ-private-konfessionelle „Krüppelfürsorge“ veränderte sich zu einem vom Staat gesetzlich geregelten Fürsorgebereich. Die Kriegsverletzten des Ersten Weltkrieges erhielten im Rahmen der öffentlichen Fürsorge eine Sonderstellung. Obwohl sich das Gesetz nur auf Preußen bezog, entwickelten sich auch die außerpreußischen Einrichtungen der Inneren Mission weiter. Die Wirtschaftskrise setzte der aufstrebenden Entwicklung der evangelischen Körperbehindertenfürsorge ein Ende. Problematisch wurde es, ein evangelisches Profil gegenüber den staatlichen Vorgaben und der „humanitären“ Fürsorge herauszubilden.

Anpassung in der Zeit des Nationalsozialismus

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten passten sich die evangelischen Anstalten den politischen Gegebenheiten an. Es wurde gehofft, durch die Zustimmung zu Maßnahmen der nationalsozialistischen Wohlfahrtspolitik, z.B. zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, einen anstaltseigenen Spielraum zu erhalten. Eine Auseinandersetzung um „vorbeugende Eugenik“ hatten sie bereits seit Ende der 1920er Jahre anlässlich der Frage geführt, wie mit den „Siechen“ in den evangelischen Einrichtungen umzugehen sei. Dennoch wurden circa ein Prozent der in „Krüppelheimen“ lebenden Menschen zwangssterilisiert und eine unbekannte Zahl im Rahmen der Euthanasie ermordet.

Die Innere Mission versuchte, ihre Arbeit institutionell gegenüber dem Nationalsozialismus abzusichern, indem sie den gesellschaftlichen Wert ihrer Arbeit und den der „Körperbehinderten“ betonte.  Die Veränderung in der Terminologie – vom  „Krüppel“ zum „Körperbehinderten“ – markierte endgültig eine Trennung von volkswirtschaftlich nützlicher Körperbehindertenfürsorge und nicht sanktionierter, aber geduldeter „Siechenfürsorge“. Medizinische Betreuung, Aus- und Weiterbildung sowie Rehabilitationsmaßnahmen wurden in Folge der großen Zahl der Kriegsversehrten des Zweiten Weltkrieges weiter ausgebaut.

Wiederaufbau nach 1945

In einer ambivalenten Verknüpfung zwischen Kontinuität und Neuorientierung nahmen der „Verband der deutschen evangelischen Krüppelheime der Inneren Mission“ und der 1946 gebildete „Ost“-Verband ihre Arbeit wieder auf. Der "Ost"-Verband etablierte sich als eigene Größe innerhalb des Gesundheitswesens, schloss sich 1962 der "Gesellschaft für Rehabilitation in der DDR" an und war durch enge Zusammenarbeit mit dem westlichen Partnerverband verbunden.

In der BRD verbesserte sich erst in den 1950er Jahren die wirtschaftliche Lage der evangelischen Einrichtungen, die durch einen wachsenden Bedarf an Pflegeplätzen - unter anderem durch die Welle der Kinderlähmung - und durch Finanzknappheit gekennzeichnet war. Mit dem Inkrafttreten des Körperbehindertenfürsorgegesetzes (KBFG) von 1957, an dessen Zustandekommen evangelische Vertreter maßgeblich beteiligt waren und das sich noch stark am Preußischen Krüppelfürsorgegesetz von 1920 anlehnte, wuchs auch die evangelische Körperbehindertenfürsorge.

Reformeifer: Die 1960er bis 1980er Jahre

Alte Fürsorgestandards wurden 1961 durch die Eingliederung des KBFG in das Bundessozialhilfegesetz und die Einführung des Schwerbehindertengesetzes abgelöst. Auf Grund des Sozialstaatspostulates entwickelte sich in den nächsten drei Jahrzehnten eine umfassende Behindertenhilfe, die unter anderem der so genannten Contergan-Katastrophe zu Beginn der 1960er Jahre Rechnung trug. Ein intensiver Ausbau des Systems der medizinischen und beruflichen Rehabilitation folgte. Neue Perspektiven in der Berufsausbildung und in der Eingliederung von Körperbehinderten in das Erwerbsleben bahnten sich in Folge der Schulreform an, die zur Erweiterung der Sonderschulen für Körperbehinderte führte.

Die Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes 1969  bewirkte einen neuen Aufbruch in Hinblick auf Ausbildung und Bildung behinderter Menschen, der in den nächsten Jahren zur Gründung von Berufsbildungswerken, den heutigen "Werkstätten für Behinderte" führte. Da seit den 1960er Jahren viel Wert auf Rehabilitation gelegt wurde, veränderten beide Verbände 1971 ihre Namen in "Verband Evangelischer Einrichtungen für die Rehabilitation Behinderter e.V." (VEERB) und "Fachverband Evangelischer orthopädischer Einrichtungen zur Rehabilitation in der DDR". Die konfessionsunabhängige Krüppelbewegung der 1980er Jahre, die bis heute für ein selbstbestimmtes Leben eintritt,  wirkte innovativ auf die Arbeit des bundesdeutschen Verbandes ein. Sie forcierte die Einrichtung von Wohngruppen außerhalb der Anstalten, arbeitete gegen den Trend der Medizinalisierung und kämpfte gegen erstarkende eugenische Lösungen im Sinne des australischen Philosophen Peter Singer.

Gesellschaftliche Teilhabe statt Fürsorge

1998 entstand aus der Fusion des VEERB und des Verbandes evangelischer Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung e.V. der "Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e.V." (BEB). Der BEB ist dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossen und führt dessen Arbeit für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen fort. Er deckt bundesweit mit seinen Mitgliedseinrichtungen annähernd 50 Prozent der Angebote in der Behindertenhilfe sowie wesentliche Teile der Sozialpsychiatrie ab und repräsentiert bundesweit 275 Rechtsträger mit mehr als 600 Teileinrichtungen.

Als Mitglied der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter arbeitete der BEB an der Ausformulierung und Verabschiedung des Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) von 2001 und am Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 mit, worin die Belange von behinderten und von einer Behinderung bedrohten Menschen neu geregelt wurden. Ziel dieses Gesetzes ist es, die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Dabei wird besonderen Bedürfnissen Rechnung getragen.

Literatur:

Norbert Friedrich: Körperbehindertenfürsorge, in: Jochen-Christoph Kaiser (Hg.): Handbuch zur Geschichte der deutschen Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart (erscheint 2006).

Sandra Hausdörfer-Reinert: Von der Krüppelfürsorge zur Rehabilitation für Körperbehinderte. Ein Beitrag zur Verortung Sozialer Arbeit, Lage 2005.

Udo Wilken: Innere Mission und „Krüppelfürsorge“ als evangelische Diakonie, in: Hans Stadler, Udo Wilken: Pädagogik bei Körperbehinderung. Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik, Bd. 4, Weinheim, Basel, Berlin 2004.

Autorin: Regina Mentner

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