Wohnungslosenhilfe
Die "wandernde Bevölkerung" und die Gründung der Herbergen zur Heimat
Die Existenz einer wandernden Bevölkerung hat die Innere Mission von ihrer Gründung an beschäftigt. In seiner Rede auf dem ersten Kongreß für Innere Mission im Jahre 1849 hat sich Johann Hinrich Wichern ausführlich mit den Problemen und Gefährdungen der „wandernden Bevölkerung“ beschäftigt. Den Handwerksgesellen galt dabei seine besondere Aufmerksamkeit. Sie sollten vor dem sozialen Abstieg in das „Vagabundenleben“ bewahrt werden. Wicherns Vorschläge zielten nicht nur auf die Reform des Herbergswesens und die Bildung christlicher Handwerkervereine. Zielvorstellung war vielmehr die Wiederbegründung einer patriarchalischen Meister-Gesellen-Beziehung auf christlicher Grundlage. Damit sollte zugleich ein Beitrag zur Reform der sozialen Verhältnisse im Handwerk geleistet werden.
Die Fürsorge für die wandernden Handwerksgesellen als Arbeitsfeld der Inneren Mission begann mit der Gründung der „Neuen Gesellenherberge zur Heimath“ in Bonn durch den dortigen Gesamtverein für Innere Mission im Jahre 1854. Vorsitzender des Vereins war der Universitätsprofessor Clemens Theodor Perthes. Die Bonner Herberge diente als Modell für die Gründung ähnlicher Einrichtungen in anderen Städten und Gemeinden. Im Jahre 1899 gab es im gesamten Reichsgebiet 465 Herbergen zur Heimat, die über mehr als 16.000 Betten verfügten. 451 von ihnen gehörten dem „Deutschen Herbergsverein“ an, der im Jahre 1886 gegründet worden war.
Erster Vorsitzender des „Deutschen Herbergsvereins“ war Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910). Aufgabe des Vereins war die Koordinierung der Herbergsarbeit. In seinen Hauptversammlungen widmete sich der Verein unter anderem der beruflichen Aus- und Fortbildung der Hausväter in den Herbergen, die aus verschiedenen Brüderanstalten kamen. Die Gründung des „Deutschen Herbergsvereins“ war zugleich ein Beitrag zur Reorganisation des Herbergswesens im Kontext der Wandererfürsorge.
Der Auf- und Ausbau der Wandererfürsorge
Der Auf- und Ausbau der Wandererfürsorge begann mit der Gründung der ersten Arbeiterkolonie im Jahre 1882. Damit reagierte die Innere Mission auf ein soziales Problem, das in der Öffentlichkeit der 1870er Jahre heftig diskutiert wurde. Durch das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz aus dem Jahre 1870 war die Armenfürsorge reformiert worden. Zwar war jeder Ortsarmenverband verpflichtet, für die Hilfebedürftigen vor Ort zu sorgen. Doch ging der Unterstützungswohnsitz durch zweijährige Ortsabwesenheit verloren. Ein neuer konnte erst durch einen zweijährigen ununterbrochenen Aufenthalt an einem neuen Wohnort erworben werden.
Vor allem Arbeiter, die im Zuge der Binnenwanderung ihren Heimatort verlassen hatten, hatten im Falle von Arbeitslosigkeit keinerlei Ansprüche auf Leistungen der Armenfürsorge. Viele von ihnen nahmen die Wanderschaft in der Tradition der Gesellenwanderung auf. Für diese Männer bestand die Gefahr, nach § 361 des Reichsstrafgesetzbuches von der Polizei als Bettler und Vagabund verhaftet zu werden. Wer wiederholt wegen eines Betteleideliktes festgenommen worden war, konnte nach § 362 des Reichsstrafgesetzbuches der Landespolizeibehörde überwiesen und zu einer Arbeitshausstrafe verurteilt werden. Damit drohte im Falle von Arbeits- und Obdachlosigkeit jene soziale Stigmatisierung zum Vagabunden, der die Wandererfürsorge entgegenwirken wollte.
Armut statt Almosen
Zielgruppe der Wandererfürsorge waren die Wanderarmen oder Wanderer, das heißt, wie es Friedrich von Bodelschwingh im Jahre 1894 formuliert hatte, die „auf den Landstraßen befindlichen nicht ortsansässigen Armen, denen Obdach oder Nahrung fehlt und, obwohl sie noch arbeitsfähig sind, die Gelegenheit, sich beides zu erwerben.“ Die Unterstützung der Wanderer beruhte auf dem Prinzip „Arbeit statt Almosen“. Wer bereit war, die geforderte Arbeitsleistung zu erbringen, konnte die gebotene Hilfe in Anspruch nehmen. Wer die Arbeitsleistung verweigerte, galt als „Vagabund“, der mit Recht von der Polizei verhaftet werden konnte. „Für den Fleißigen entsprechende Hilfe, für die Faulenzer stramme Zucht“ – so lautete ein Kernsatz der Wandererfürsorge in der pointierten Formulierung Bodelschwinghs.
Die erste deutsche Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf in der Senne wurde am 13. August 1882 feierlich eingeweiht. Die Initiative zur Gründung war im Kreis des „Vereins für innere Mission für Minden-Ravensberg-Tecklenburg-Lippe“ entstanden. Träger der Arbeiterkolonie war ein Verein, aber im Hinblick auf die Finanzverwaltung wurde die Kolonie als „Filiale“ von Bethel geführt. Wilhelmsdorf mit seinen landwirtschaftlichen Betrieben war der Ursprung der späteren Betheler Teilanstalt Eckardsheim.
Mit dem Leben auf der Straße brechen
Die Arbeiterkolonie war als eine Einrichtung gedacht, die es arbeits- und obdachlosen Wanderern ermöglichen sollte, den Bruch mit dem Leben auf der Straße zu vollziehen. Das Leben in der Arbeiterkolonie stellte einen Gegenentwurf dar zur Existenz als Arbeits- und Obdachloser in der industriell-urbanen Lebenswelt. In Wilhelmsdorf wurde in der Land- und Viehwirtschaft gearbeitet, eine Tätigkeit, die nach Ansicht von Bodelschwingh „mit größter Leichtigkeit von allen verschiedenen Arbeitslosen schnell gelernt werden kann, durchschnittlich den größten Ertrag gibt und zugleich für Leib und Seele stärkend wirkt.“
Zum Eintritt in die Kolonie erhielt der künftige Kolonist zwei neue Anzüge, einen Arbeits- und einen Sonntagsanzug, die er von seinem Verdienst bezahlen musste, und es bot sich ihm die Gelegenheit zu einem gründlichen Bad. Zwischen dem Vorstand der Arbeiterkolonie und dem Kolonisten wurde ein so genannter Arbeiter-Kontrakt geschlossen. Der Kolonist akzeptierte damit die Freiwilligkeit der gebotenen Hilfe, und er ordnete sich mit seiner Unterschrift der Hausordnung unter. Sie regelte den Koloniealltag vom Aufstehen über die Arbeit bis zum Schlafengehen, wobei der Einhaltung der religiösen Ordnung ein besonderes Gewicht beigemessen wurde.
Arbeiterkolonien waren Vorbild
Die Gründung der Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf fand in der zeitgenössischen Öffentlichkeit eine recht große Resonanz. In allen preußischen Provinzen sowie in den größeren Bundesstaaten wurden Arbeiterkolonien nach dem Wilhelmsdorfer Vorbild gegründet. Im Jahre 1899 gab es 24 Arbeiterkolonien mit mehr als 3000 Plätzen. Auch Einrichtungen für obdachlose Frauen wurden als Arbeiterinnenkolonien gegründet. Darüber hinaus fand das Modell der Arbeiterkolonie in der katholischen und in der jüdischen Wohlfahrtspflege Nachahmung. Im Jahre 1902 wurde die jüdische Arbeiterkolonie in Berlin-Weißensee eröffnet. In der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und in den Gewerkschaften trafen die Arbeiterkolonien mit ihrem christlich-patriarchalischen Fürsorgekonzept dagegen auf heftige Ablehnung.
Für Friedrich von Bodelschwingh war die Arbeiterkolonie Bestandteil eines Fürsorgemodells, das auf der Arbeitsteilung zwischen freier Vereinstätigkeit einerseits und den Leistungen der kommunalen und staatlichen Wohlfahrtspflege andererseits beruhen sollte. Während die Arbeiterkolonien und Herbergen von freien Vereinen der kirchlichen Wohlfahrtspflege getragen wurden, sah er die Aufgabe der Kommunen darin, die Naturalverpflegungsstationen zu unterhalten. Durch ein möglichst flächendeckendes Netz dieser Stationen, die um die Jahrhundertwende in Wanderarbeitsstätten umbenannt wurden, sollte es arbeitslosen Wanderern ermöglicht werden, auf Stellensuche zu gehen, ohne betteln zu müssen. Auch in den Wanderarbeitsstätten sollte Hilfe nur gegen Arbeitsleistung erfolgen. Als Beispiel nannte Friedrich von Bodelschwingh die Arbeit im Holzstall.
Vereine gegründet
Ähnlich wie in Westfalen ging auch in anderen preußischen Provinzen sowie in den anderen Bundesstaaten die Initiative zur Gründung von Arbeiterkolonien von den Vereinen für Innere Mission aus. Als Träger der Einrichtungen wurden eigene Vereine gegründet, die sich in den 1880er Jahren zu Verbänden zusammenschlossen. Zu ihnen gehörte der „Central-Vorstand deutscher Arbeiterkolonien“ (1884), der „Deutsche Herbergsverein“ (1886) und der „Gesamt-Verband deutscher Verpflegungsstationen (Wanderarbeitsstätten)“ (1892). Seit 1885 erschien die Zeitschrift „Die Arbeiterkolonie“ (ab 1897: Der Wanderer), die in Bethel gedruckt und versandt wurde. Damit gehörte die Wandererfürsorge zur den Wegbereitern einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit in der Diakonie.
In den 1890er Jahren hatten sich die Vereine und Verbände für die gesetzliche Regelung der Wandererfürsorge stark engagiert. Bodelschwingh hatte in den Jahren 1903 bis 1907 ein Mandat als Abgeordneter im preußischen Landtag angenommen, wo er sich in besonderem Maße für den Erlass einer gesetzlichen Regelung stark machte. Das im Jahre 1907 verabschiedete preußischen Wanderarbeitsstättengesetz blieb allerdings weit hinter den Erwartungen der Verbände zurück.
Die Wandererfürsorge zwischen 1914 und 1933
In den Jahren 1914 bis 1918 mussten die Verbände ihre Arbeit weitgehend einstellen. Die westfälischen Arbeiterkolonien bekamen den Status von Vollzugs- und Bewahrungsanstalten. Wanderer, die zu einer Arbeitshausstrafe verurteilt worden waren, konnten für zwei Jahre in eine Arbeiterkolonie eintreten. Dennoch ging die Zahl der Kolonisten in Wilhelmsdorf stark zurück.
Der Übergang von der Monarchie zur Republik fiel der Wandererfürsorge schwer. Die Verbände und die Einrichtungen setzten die Tradition des Hilfesystems, so wie es sich im Kaiserreich entwickelt hatte, fort. Im Zentrum der Verbandspolitik stand die Diskussion über das Bewahrungsgesetz und die reichsgesetzliche Regelung des Wanderns. Gegenüber den sozialpolitischen Neuerungen des Weimarer Wohlfahrtsstaates, wie der Einführung der Arbeitslosenfürsorge und dem Ausbau der Arbeitsvermittlung, verharrten die Verbände in skeptischer Distanz. Hermann Kockelke, Pfarrer und Geschäftsführer des Westfälischen Herbergsverbandes in Münster, fasste diese Position in einer prägnanten Formulierung zusammen: „Gegenüber der allgemein nivellierenden Tendenz ‚Almosen statt Arbeit’ kämpften wir bewusst für den altbewährten Grundsatz Bodelschwinghs ‚Arbeit statt Almosen’.“
In den unmittelbaren Nachkriegsjahren war die Zahl der Wanderer in den Arbeiterkolonien und Herbergen rückläufig. Mitte der 1920er Jahre aber wuchs die Zahl der aufgenommenen Personen erneut. Allerdings veränderte sich die altersmäßige Zusammensetzung der Hilfesuchenden. In den Arbeiterkolonien mussten vermehrt Plätze für alte und dauerhaft pflegebedürftige Wanderer geschaffen werden. Von großer Bedeutung für den Fortbestand der Einrichtungen war die Anerkennung der Arbeiterkolonien als Anstalten im Sinne der 1924 verabschiedeten „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“. Dadurch war ein Anspruch auf Übernahme der Pflegekosten durch die Träger der öffentlichen Wohlfahrtspflege gegeben.
Wandererfürsorge in der NS-Zeit
Die Verbände und Einrichtungen reagierten mit großer Zustimmung auf die nationalsozialistische Machtergreifung. Die polizeilichen Maßnahmen, die im September 1933 im Rahmen der sog. Bettlerrazzia zur Verhaftung von Wanderern, Bettlern und Obdachlosen führten, wurden bereitwillig unterstützt. Der Frage, ob im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Vorstände ein Austausch des Führungspersonals eintreten würde, sah man in der Wandererfürsorge mit Gelassenheit entgegen, da, wie es Paul Braune, Leiter der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal und Geschäftsführer der Wandererfürsorgeverbände, in einem Brief formuliert hatte, „ja sämtliche Herren des Vorstandes als national zuverlässig bekannt seien“.
Das Hauptinteresse der Verbände bestand in der Durchsetzung des Bewahrungsgesetzes und der gesetzlichen Regelung der Wandererfürsorge. Diese Themen standen auch im Mittelpunkt der Tagung der Verbände im Oktober 1933 in Goslar. Zu den Referenten gehörte unter anderem der Psychiater Carl Schneider (Bethel), der in seinem Vortrag für Sterilisationsmaßnahmen in den Einrichtungen der Wandererfürsorge plädierte. In vielen Arbeiterkolonien sind Zwangssterilisationen durchgeführt worden.
Aktion Arbeitsscheu
Einen Höhepunkt in der Verfolgung von Wanderern, Obdachlosen und Bettlern bildete die so genannte Aktion Arbeitsscheu Reich im Jahre 1938. Sie sollte sowohl der Erschließung von Arbeitskraftreserven als auch der Einschüchterung und Disziplinierung gelten. Zur Vorbereitung der Aktion hatte die Polizei mit den Arbeitsverwaltungen und den Wandererfürsorgeverbänden zusammengearbeitet. Dabei konnte die Polizei auf die sog. Fahndungskartei für Asoziale zurückgreifen, die seit 1934 im „Wanderer“ veröffentlicht wurde. Bei der Aktion wurden ca. 11.000 Wanderer, Bettler und Obdachlose verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen eingeliefert. Dort wurden sie der Häftlingsgruppe der „Asozialen“ zugeordnet, die mit einem schwarzen Winkel gekennzeichnet waren.
Mit der Verhaftungsaktion hatte die Wandererfürsorge den Adressaten ihres Hilfesystems verloren. Die Verbände hofften weiterhin auf die Durchsetzung des Bewahrungsgesetzes. Im Jahre 1941 änderten sie ihren Namen in „Gesamtverband der Einrichtungen für Heim- und Bewahrungsfürsorge“. In den Kriegsjahren kam die Arbeit aber weitgehend zum Erliegen. Der „Wanderer“ wurde im Frühjahr 1941 eingestellt.
Die Wandererfürsorge nach 1945
Unmittelbar nach Kriegsende stand zunächst die Fürsorge für Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegsheimkehrer im Mittelpunkt der Arbeit in den Einrichtungen, die den Krieg überstanden hatten. Nach diesen Gruppen kamen Flüchtlinge aus der damaligen Sowjetischen Besatzungszone in die Arbeiterkolonien. Die alten Einrichtungen konnten damit einer neuen Gruppe von Hilfesuchenden vorübergehend Aufnahme und Unterstützung bieten. In den 1950er Jahren wandten sich die Einrichtungen wieder stärker ihrer „traditionellen“ Klientel zu, den arbeits- und wohnungslosen Männern. In der Praxis knüpfte man nahezu bruchlos an die Konzepte und die Fürsorgeprinzipien der Vorkriegsjahre an.
In der frühen Nachkriegszeit begann auch der Wiederaufbau der verbandspolitischen Arbeit. Da die Anstalt Lobetal, die Wirkungsstätte von Paul Braune, auf dem Gebiet der SBZ beziehunsgweise der DDR lag, wurde Bethel erneut zum Koordinierungszentrum des Hilfesystems. Im Jahre 1954 wurde die „Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtsesshaftenhilfe“ gegründet, die ihren Sitz ebenfalls in Bethel hatte. Die Jahrestagungen der Bundesarbeitsgemeinschaft wurden zu einem wichtigen Forum des Erfahrungsaustausches und der Diskussion über die Grundlagen des Hilfesystems.
Konzept der Nichtsesshaftenhilfe
In den 1950er Jahren wurde das Konzept der Nichtsesshaftigkeit zum Leitbegriff des Hilfesystems, das sich seit den 1950er Jahren als Nichtsesshaftenhilfe definierte. Der Begriff Nichtseßhaftigkeit war in den 1930er Jahren von Wohlfahrtspflegern und Psychiatern formuliert worden. Der Nichtsesshafte wurde, wie es Eberhard von Treuberg formuliert hat, „als besondere, sozial abnorme und psychisch auffällige Persönlichkeit“ wahrgenommen.
Als besonderes Merkmal galten Bindungslosigkeit, Mobilität und psychische Störungen. Unter Anknüpfung an psychiatrische Arbeiten aus dem frühen 20. Jahrhundert suchte man nach medizinischen Erklärungsmustern, die als Ursache der Nichtsesshaftigkeit verortet werden konnten. Im Zentrum des Hilfesystems standen stationäre Hilfen in den überkommenen Einrichtungen sowie ambulante Hilfen in Beratungsstellen, die sich in der Regel auf Auskunft, Verpflegung und kurzzeitige Unterbringung beschränkten.
In den 1970er Jahren wurden die Theorie und die Praxis der Nichtsesshaftenhilfe immer häufiger zum Gegenstand der Kritik, wobei die Kritiker sowohl intern aus den Verbänden und Einrichtungen als auch aus den Universitäten und Fachhochschulen kamen. Dem Hilfesystem wurde vorgeworfen, durch die Verschiebepraxis in den Einrichtungen in nicht geringem Maße zur Aufrechterhaltung der Nichtsesshaftigkeit beizutragen. Die Kritik führte zu einer grundlegenden Reform.
Die Neuorientierung vollzog sich auf dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher und sozialpolitischer Rahmenbedingungen. Mit der Reform des BSHG im Jahre 1974 wurde der Begriff des Nichtsesshaften durch den Terminus „Personen, bei denen besondere soziale Schwierigkeiten der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft entgegenstehen“, ersetzt. Durch die Strafrechtsreform wurde im gleichen Jahr der § 361 STGB ersatzlos gestrichen. An die Stelle des Begriffs der Nichtseßhaftigkeit, bei dem die abnorme Persönlichkeitsstruktur im Vordergrund stand, trat das sozialwissenschaftliche Konzept der Wohnungslosigkeit. Auch in der Verbands- und in der Öffentlichkeitsarbeit wurde die Neuorientierung deutlich. Die „Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtsesshaftenhilfe“ wurde im Jahre 1991 in „Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.“ umbenannt.
Die Entwicklung neuer Therapieangebote und die Durchsetzung von Rechtsansprüchen der Betroffenen waren wichtige Bestandteile der Reform des Hilfesystems. Darüber hinaus gewannen ambulante Hilfen an großer Bedeutung. An die Stelle stationärer Einrichtungen in abgelegenen ländlichen Regionen, wie sie mit den Arbeiterkolonien im Kaiserreich geschaffen wurden, sind in den vergangenen Jahren offene Beratungs- und Dienstleistungsangebote in den Kommunen getreten.
Literatur:
Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995
Scheffler, Jürgen (Hrsg.): Bürger & Bettler. Materialien und Dokumente zur Geschichte der Nichtsesshaftenhilfe in der Diakonie. Bd. 1. 1854-1954. Vom Herbergswesen für wandernde Handwerksgesellen zur Nichtsesshaftenhilfe, Bielefeld 1987
Schmuhl, Hans-Walter: Friedrich von Bodelschwingh, Reinbek bei Hamburg 2005
Wohnungslos, 46. Jg., 2004, H. 3: 50 Jahre BAG Wohnungslosenhilfe e.V. – Rückschau und Ausblick
Autor: Jürgen Scheffler