Kinderkuren 1950er bis 1980er Jahren

Die Kinderkuren waren ein Massenphänomen der bundesdeutschen Nachkriegszeit. In den 50er- bis 80er-Jahren wurden mehrere Millionen Kinder zu meist mehrwöchigen Aufenthalten zur Erholung in Kureinrichtungen geschickt – häufig an die See, ins Mittelgebirge oder in die Alpen. Ziel war die gesundheitliche Stärkung bei guter Ernährung und in frischer Luft. Die Kuren sind von Ärzten verschrieben oder von der Fürsorge bzw. Jugend- und Gesundheitsämtern veranlasst worden. Kostenträger waren in der Regel Rentenversicherungen und Krankenkassen, betroffen waren Kinder aus allen sozialen Schichten.

Die Heime waren u. a. in Trägerschaft der – auch kirchlichen – Wohlfahrtsverbände. Die Praxis in den Häusern war sehr unterschiedlich. Unstrittig ist, dass einem nennenswerten Teil der Kinder Leid geschehen ist – sei es durch die damals praktizierten Erziehungsmethoden („schwarze Pädagogik“), sei es durch Übergriffe, die auch damals gegen geltendes Recht verstießen, aber kaum verfolgt worden sind. In den Veröffentlichungen überwiegen bei weitem die kritischen Stimmen, die Demütigung (z. B. Essenszwang, Redeverbote) oder Gewalt (z. B. Prügel, Misshandlungen, Medikamenteneinsatz) beklagen. Vereinzelt sind in Medien aber auch „Verschickungskinder“ zu Wort gekommen, die heute noch positiv über ihre damalige Kur sprechen. Es ist offensichtlich, dass die Praxis der Kinderkuren sehr komplex und vielschichtig war.

Im Mittelpunkt steht derzeit die Aufarbeitung – das ist auch das öffentlich geäußerte Hauptanliegen der bundesweiten „Initiative Verschickungskinder“. Eine große bundesweite Studie läuft seit Ende 2022 an der Humboldt-Universität Berlin. Auftraggeber ist die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) in Kooperation mit der Diakonie Deutschland, dem Deutschen Caritasverband und dem Deutschen Roten Kreuz. Das Projekt ist auf zwei Jahre angelegt, im wissenschaftlichen Beirat sind Betroffene vertreten. Bereits veröffentlicht wurde im April 2023 eine weitere Studie im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit.

Im bundespolitischen Raum sind derzeit keine größeren Initiativen erkennbar. Regional gibt es Aktivitäten vor allem in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen; daran sind auch die gliedkirchlichen Diakonischen Werke beteiligt.

Das anfänglich starke Medieninteresse hat seit 2021 nachgelassen, es wird aber punktuell immer wieder über das Thema in Presse, Funk, Fernsehen und Online-Medien berichtet. Die Betroffenen-Initiative führt Lobbying-Gespräche mit Bund, Ländern und Verbänden.

Genaue Zahlen über die in Kuren verschickten Kinder liegen bisher nicht vor, in Berichten wird von acht bis zehn Millionen gesprochen. Bundesweit gab es schätzungsweise rund 1.000 Heime in unterschiedlicher Trägerschaft. In den Medien wird das Thema fast ausschließlich als ein rein bundesdeutsches Thema behandelt, und die Betroffenen, die sich öffentlich äußern, sind vorwiegend aus der alten Bundesrepublik. Doch auch in der DDR gab es in großem Umfang Kinderkuren, und in den Betroffenenforen melden sich auch Menschen aus Ostdeutschland zu Wort.

Nach bisherigen Recherchen zeichnet sich ein sehr komplexes und uneinheitliches Bild ab. Es wurden (teils sehr junge) Kinder allein in die Einrichtungen geschickt und in die Obhut des dortigen Personals gegeben. Es fuhren aber auch ganze Gruppen oder Klassen in Begleitung ihrer Erziehungs- oder Lehrkräfte in die Kuren. Der Transport erfolgte oftmals mit der Deutschen Bundesbahn, die auch Sonderzüge einsetzte. Teilweise wurden Aufgaben der Organisation und Vermittlung von Gesundheitsämtern und öffentlichen Trägern der Jugendhilfe übernommen.

Die damals praktizierten Erziehungsmethoden und vieles, was in den Einrichtungen geschah, entspricht nicht den heutigen Kriterien der Gesundheitspflege, Sozialarbeit und Pädagogik. Aus den 50er- und 60er-Jahren sind einzelne Fälle dokumentiert, in denen auch aus der NS-Zeit belastete Mediziner Verantwortung in Einrichtungen trugen. Darüber hinaus gab es eine nennenswerte Zahl von Vorfällen, die auch den Maßstäben der damaligen Zeit nicht genügten und zum Teil gesetzeswidrig waren. Einrichtungen waren personell unterbesetzt und unterfinanziert. Der Umgang mit den Kindern, in Einzelfällen aber auch der Kinder untereinander, war zum Teil demütigend und gewalttätig. Örtlich wurden Medikamente missbräuchlich zur Ruhigstellung von Kindern eingesetzt. Die Berichte reichen bis hin zu einzelnen Todesfällen, die nur unzureichend aufgearbeitet wurden. Drei Kinder starben 1969 in einem Heim der Inneren Mission in Bad Salzdetfurth (Niedersachsen). Das Diakonische Werk in Niedersachsen hat eine wissenschaftliche Untersuchung dazu veröffentlicht.

Wie viele Fälle die evangelische Kirche, die damalige Innere Mission bzw. die Diakonie betreffen, ist bisher nicht vollständig erhoben. Nach der amtlichen Gesundheitsstatistik aus den 60er-Jahren dürfte der Anteil der Plätze in evangelisch getragenen Häusern bei etwa zehn bis 15 Prozent der Gesamtzahl gelegen haben. Etwa die Hälfte der fraglichen Kureinrichtungen war in privater Trägerschaft, (Krankenkassen und Stiftungen sind in diese Kategorie einbezogen), ein Sechstel war kommunal und ein Drittel unter dem Dach der (auch kirchlichen) Wohlfahrtsverbände. So sind für Württemberg 18 Erholungsheime in diakonischer Trägerschaft ermittelt worden. In Niedersachsen gab es zudem mehrere Häuser, die auswärtigen kirchlichen Trägern gehörten.

Die „Initiative Verschickungskinder“ ist bei Kirche und Diakonie auf den unterschiedlichen Ebenen mit der Bitte um Unterstützung vorstellig geworden. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat sich bei seiner Sitzung Ende November 2020 mit dem Thema befasst und gegenüber den Betroffenen sein großes Bedauern über die Vorgänge in kirchlichen Einrichtungen geäußert.

Die Betroffenen organisieren sich auf Bundes- und Landesebene und teilweise fokussiert auf einzelne ehemalige Standorte. Seit etwa zehn Jahren sammelt die Aktivistin Anja Röhl Material und ist eine der Hauptorganisatorinnen. Sie war selbst mehrfach zu Kinderkuren verschickt und hat die „Initiative Verschickungskinder – Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V.“ mitgegründet, die im Herbst 2019 erstmals eine Tagung mit Betroffenen auf Sylt organisiert hat. Einzelne Personen stehen im Kontakt mit diakonischen Landesverbänden und der Diakonie Deutschland, ebenso mit Landeskirchen. Schwerpunkt der Organisation ist das Bestreben um Aufarbeitung sowie die Kommunikation mit und zwischen Betroffenen.

Die Diakonie Deutschland beteiligt sich inhaltlich und finanziell mit dem Deutschen Caritasverband und dem Deutschen Roten Kreuz an einem Forschungsprojekt, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund angestoßen hat. Der Auftrag ist Ende 2022 an den Sozial- und Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Alexander Nützenadel von der Humboldt-Universität Berlin ergangen, der mit seinem Team bis Ende 2024 Ergebnisse vorlegen will, sie sollen bis 2025 veröffentlicht werden.

Die Studie stützt sich im Wesentlichen auf Archivgut und zeitgenössische Fachliteratur sowie auf Interviews mit Zeitzeugen. Die historische Materiallage weist inzwischen Lücken auf, da viele Akten der Behörden und Kostenträger nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen ordnungsgemäß vernichtet worden sind. Zudem haben viele Häuser inzwischen den Besitzer gewechselt, Trägerorganisationen sind aufgelöst worden oder in anderen Einheiten aufgegangen. Dennoch gibt es nach einer Vorstudie von Prof. Dr. Nützenadel hinreichendes Material für die wissenschaftliche Bearbeitung.

Eine weitere überregionale Studie, die Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl (Universität Bielefeld) im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit erstellt hat, ist im Frühjahr 2023 bereits veröffentlicht worden.

Darüber hinaus liegen inzwischen eine Reihe regionaler Untersuchungen vor oder sind in Arbeit (u. a. Diakonie Niedersachsen, Diakonie Württemberg, Land NRW).

Zu den Zeitzeugen, die von den Historikern der Humboldt-Universität befragt werden sollen, werden selbstverständlich auch Betroffene gehören. Darüber hinaus arbeiten zwei Vertreterinnen der Initiative, Anja Röhl und Prof. Dr. Christiane Dienel, im wissenschaftlichen Beirat mit, der das Projekt begleitet. Vor allem die drei beteiligten Wohlfahrtsverbände werden dafür Sorge tragen, dass die Perspektive der Betroffenen hinreichend Niederschlag im Projekt findet.

Inzwischen sind auch Bücher zum Thema erschienen, so von Anja Röhl unter dem Titel „Das Elend der Verschickungskinder“ und von der Journalistin Hilke Lorenz („Stuttgarter Zeitung“) unter dem Titel „Die Akte Verschickungskinder“. Beide Publikationen fußen stark auf den Berichten Betroffener.

Das ARD-Magazin Report Mainz hatte 2019 Berichte von etwa 1.000 Betroffenen gesammelt und ausgewertet, nach denen sich 94 Prozent der Befragten „eindeutig negativ“ äußerten. 60 Prozent gaben an, dass sie bis heute unter der Kinderkur leiden. Zu berücksichtigen ist, dass die Untersuchung nicht repräsentativ ist, sondern dass sich bei diesem methodischen Vorgehen überdurchschnittlich viele Menschen mit negativen Erfahrungen melden. Es gibt auch einzelne Berichte Ehemaliger, die ihre Kur als eines der schönsten Erlebnisse ihrer Kindheit schildern. Ungeachtet dessen ist es erforderlich, sich vordringlich um die negativen Erfahrungen zu kümmern.

Die Bundespolitik reagiert von Anfang an zurückhaltend. Das BMBF hat einen eigenen Forschungsantrag der Initiative abgelehnt, und auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat sich bisher nicht klar zu einer Unterstützung bekannt, nachdem Ministerin Franziska Giffey (SPD) m Frühjahr 2020 erklärt hatte, einen Vorstoß der Länder zu prüfen. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen wurde das Thema durch einen Antrag der SPD-Fraktion aufgegriffen. In NRW ist inzwischen ein Runder Tisch Kinderverschickungen eingerichtet.

Auf Initiative von Landesregierungen (Baden-Württemberg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) hatte sich die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) am 27. Mai 2020 mit dem Thema befasst. In einem Beschluss erkennt die Konferenz das Leid an. Es zeige sich, dass es sich um ein bundesweites Phänomen gehandelt habe, an welchem verschiedenste Institutionen beteiligt waren. Die Minister erzielten Einigkeit, „dass die Geschehnisse in den Heimen, die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen, strukturellen, individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umfassend aufgeklärt werden müssen“. Der Sozialminister Baden-Württembergs, Manfred Lucha (B90/Grüne) äußerte sich gegenüber der ARD, dass die Selbstorganisation und die Aufarbeitung aus öffentlichen Mitteln gefördert werden sollen.

Seit November 2019 ist das Thema in unterschiedlicher Intensität in den Medien. Nach der Ausstrahlung der „Report“-Sendung und der Tagung der Initiative auf Sylt wurde das Thema von einer Reihe von überregionalen und regionalen Medien aufgegriffen. Darin kamen vor allem Betroffene zu Wort und haben ihr Schicksal geschildert.

In der ARD wurde das Thema im November 2019 in einer Sendung von „Report Mainz“ beleuchtet. Die Redaktion hat eine weitere monothematische Sendung produziert, die am 10. August 2020 mit dem Titel „Gequält, erniedrigt, drangsaliert“ ausgestrahlt wurde. In dem Beitrag wurden aus dem evangelischen Bereich – wie bereits in der Report-Sendung Ende 2019 - die Todesfälle in Bad Salzdetfurth erwähnt. Der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks in Niedersachsen, Hans-Joachim Lenke, kam zu Wort, der das Geschehen als desaströs bezeichnete: „Das beschämt uns.“ Aus seiner heutigen Sicht hätte man die Einrichtung Ende der 60-er Jahre auf Grund der Ressourcenlage schließen müssen, bevor es zu diesen Fällen gekommen sei.

Weiteres Medieninteresse gab es nach der Veröffentlichung der Bücher von Röhl und Lorenz, die in zahlreichen Zeitungen und Sendern rezensiert wurden oder Anlass zu weiteren eigenen Interviews und Recherchen gaben. Auch die Befassung im NRW-Landtag hat zu Berichterstattung geführt.

In der Diakonie Deutschland arbeitet seit November 2019 eine Task-Force-Gruppe. Beteiligt sind aktuell das Zentrum Kinder, Jugend, Familie und Frauen, das Referat Medizinische Rehabilitation, Prävention und Selbsthilfe, die Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt, das Archiv für Diakonie und Entwicklung und das Zentrum Kommunikation. Ziele sind die Sammlung von Fakten, die Kommunikation nach innen und außen sowie die Begleitung der wissenschaftlichen Aufarbeitung.

Mit Unterstützung der GlücksSpirale beteiligt sich die Diakonie Deutschland an der wissenschaftlichen Studie von DRV, DCV und DRK (s. o.) und bringt sich in die Projektarbeit ein.

Schon jetzt steht zweifellos fest, dass auch in evangelischen Kureinrichtungen junge Menschen im Rahmen von Kinderkuren Leid erfahren haben. Dies haben Diakonie und EKD öffentlich anerkannt. Eine Grundlage für weitere Schritte wird die wissenschaftliche Aufarbeitung legen.

Stand 5. Juli 2023