Vom Gehilfen zum Diakon

Die Ausbreitung der Inneren Mission in Deutschland brachte nicht nur neue fürsorgerische und missionarische Arbeitsfelder, sondern auch eigene diakonische Berufe hervor. Als Vertreterinnen des wichtigsten Frauenberufs der Inneren Mission waren die Diakonissen und Diakonieschwestern wegen ihrer Tracht weithin erkennbar. Das männliche Pendant der Diakonisse war der Diakon; so wie jene stets als „Schwester“ angesprochen wurde, bezeichnete man die Diakone bis zur Jahrhundertwende fast ausschließlich als „Brüder“.

Die geschlechtsspezifische Parallelität der Berufsentwicklung im Bereich der Inneren Mission fand auch darin ihren Ausdruck, dass hinsichtlich der Gesamtheit der Diakonissen und der Diakone allgemein von Weiblicher beziewhungsweise Männlicher Diakonie gesprochen wurde. In der Regel wird die Männliche Diakonie vereinfachend Johann Hinrich Wichern, die Weibliche Diakonie Theodor Fliedner (1800-1864) zugeordnet. Zweifellos gehen von Wichern die stärksten Impulse für die Schaffung eines professionellen männlichen Mitarbeiterstammes der Inneren Mission aus, aber auch Fliedner hat einen prägenden Beitrag zur Gestaltung des Diakonenberufs geleistet.

Grundlagen des Diakonenberufs

Wicherns Konzept von Männlicher Diakonie war bedarfsorientiert. Die organisatorische Umsetzung seines sozialpädagogisch-volksmissionarischen Programms war nicht ohne qualifizierte Mitarbeiter zu erreichen. Deshalb begann er, gleich nachdem er 1833 in Horn bei Hamburg seine Erziehungsanstalt „Rauhes Haus“ gegründet hatte, dort mit der Ausbildung von „Gehilfen“. Dem Bild vom Diakonenberuf, das sich allmählich unter seiner Führung ausformte, lag dabei kein vorgedachtes System zugrunde, es entstand vielmehr aus den sich ergebenden Notwendigkeiten. Das dezentral organisierte Erziehungsmodell im Rauhen Haus erforderte von vornherein die dauerhafte Anstellung von Erziehungsgehilfen zur Betreuung der einzelnen „Familien“, zu denen Wichern die Kinder zusammengefasst hatte. Dem Rat des Begründers der Rettungshausbewegung, Christian Heinrich Zeller, folgend, von dessen Lehranstalt für Armenschullehrer im südbadischen Beuggen er entscheidende Anregungen erhielt, wählte er diese Gehilfen „aus der Zahl entschieden gläubiger und bekehrter Handwerksgesellen“ aus, wo-bei die praktische Erwägung, die Vorbildung dieser jungen Männer für die Arbeitserziehung der Kinder zu nutzen, entscheidend war. Schon bald bezeichnete Wichern seine Gehilfen als „Brüder“, was jedoch keine weiterreichenden theologischen Gründe hatte. Vielmehr handelte es sich ursprünglich um die Anrede, die die Kinder in den „Familien“ gegenüber ihren Erziehern benutzten. Der „Bruder“-Name setzte sich fortan als Berufsbezeichnung durch und tauchte auch in Zusammensetzungen wie „Brüderhaus“, „Brüderlehrer“ oder „Probebruder“ auf.

Als Wichern 1837 von auswärtiger Seite um die Bereitstellung von Mitarbeitern für Aufgaben der Inneren Mission gebeten wurde, erweiterte sich das anfangs auf die Fürsorgeerziehung beschränkte Einsatzgebiet der Brüder. Von nun an entsandte er seine Gehilfen in alle sich neu auftuenden diakonischen Arbeitsfelder als Hausväter, Schriftenkolporteure oder Diasporabetreuer. Im Jahr 1845 zählten bereits 50 junge Männer zur Brüderanstalt, von denen sich 35 - vielfach zu Ausbildungszwecken - im Rauhen Haus befanden und 15 als „Sendbrüder“ in auswärtigen Stellen tätig waren.

Ein Jahr zuvor hatte Fliedner in Duisburg eine „Pastoralgehilfenanstalt“ gegründet, die ein anders akzentuiertes Bild von Männlicher Diakonie vertrat. Wie schon bei der Wiederbelebung des als altkirchlich angesehenen Diakonissenamtes ging es Fliedner bei der diakonischen Ausbildung junger Männer in erster Linie um die Stärkung des christlichen Lebens in den Kirchengemeinden, wohingegen Wichern vor allem Arbeitskräfte für die Anstalten und Vereine der Inneren Mission heranbilden wollte. Im reformiert geprägten Rheinland hatte sich das Amt des Diakons seit der Reformation gehalten; es war einem der Gemeindeältesten übertragen und betraf die kirchliche Armenpflege. Weil diese ehrenamtlichen Diakone - im Hauptberuf meist Geschäftsleute - weder die Zeit noch die Kompetenz hatten, sich der komplexer werdenden Armutsproblematik in den schnell anwachsenden Stadtgemeinden im erforder-ichen Ausmaß zu widmen, entwarf Fliedner den Plan, ihnen Gehilfen an die Seite zu stellen, für die er folgerichtig die Bezeich-nung „Hilfsdiakone“ wählte. Mit dem Auftreten hauptamtlicher Hilfsdiakone in den Gemeinden wurde allerdings die Bezeichnung „Diakon“ für die ehrenamtlichen kirchlichen Armenpfleger immer ungebräuchlicher und ging bald als Berufsbezeichnung auf die Duisburger Brüder über.

Fliedner kannte das Rauhe Haus und holte von dort den ersten Duisburger Ausbildungsleiter. Dennoch unterschied sich sein Konzept in einigen grundsätzlichen Punkten von Wicherns Brüderhaus. Neben der stärker ausgeprägten Nähe zur Amtskirche betraf dies vor allem die besondere Betonung der pflegerischen Aspekte vor den pädagogisch-missionarischen. Duisburg war von vornherein als ein männliches Pendant zum Kaiserswerther Diakonissenhaus geplant worden, in dem die Krankenpflege im Vordergrund stand. Das Nebeneinander von Diakonissen und Diakonen entsprach nach Fliedner der Situation in der katholischen Kirche, wo neben den Barmherzigen Schwestern die Barmherzigen Brüder standen. Hier macht sich Fliedners Nähe zum Ordensgedanken bemerkbar, dessen Organisationsstrukturen er zum Teil übernahm und mit evangelischem Geist zu füllen suchte. Besonders deutlich wird dies am „Mutterhausprinzip“, der lebenslangen Bindung der Diakonissen an ihre Ausbildungsstätte und geistliche Heimat. Dieses Prinzip übertrug Fliedner nun von Kaiserswerth auf die Duisburger Diakonenanstalt, die er ebenfalls als das „Mutterhaus“ der Brüder bezeichnete.

Trotz der Unterschiede in der Grundlegung trafen sich Wichern und Fliedner in den entscheidenden Fragen der Ausgestaltung der Männlichen Diakonie, so dass sich eine insgesamt einheitliche Form des Diakonenberufs herausbildete. Dazu trug auch bei, dass sich Fliedners Erwartungen auf Anstellung der Brüder durch die Amtskirche nicht in der erhofften Weise erfüllten. Nur wenige Gemeinden konnten oder wollten die Kosten zur Anstellung eines Diakons aufbringen, so dass die Brüder - im Unterschied zu den Diakonissen, die sich schnell in der Gemeindekrankenpflege etablierten - bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vom kirchlichen Arbeitsfeld ausgeschlossen blieben und sich somit ganz auf den Dienst in den Anstalten und Vereinen der Inneren Mission konzentrierten.

Arbeitsfelder der Diakone

In seiner Denkschrift an die deutsche Nation von 1849, die nicht nur Programm, sondern auch eine vorläufige Bestandsaufnahme der Inneren Mission sein wollte, zählte Wichern die Einsatzfelder auf, in denen die Brüder aus Duisburg und dem Rauhen Haus zu dieser Zeit tätig waren oder nach seiner Auffassung noch tätig werden sollten:

An erster Stelle nannte er den Bereich der Gefangenenfürsorge und -seelsorge, eine der frühesten Aufgaben der Inneren Mission. Die von Wichern wiederholt vehement geforderte Reform des Gefängniswesens, zu deren Durchsetzung er 1857 als Vortragender Rat ins preußische Innenministerium berufen wurde, war aufs engste mit dem Einsatz geeigneten christlichen Aufsichtspersonals verknüpft. Schon in seinem ersten Bericht über die Brüderanstalt des Rauhen Hauses hatte er dafür Diakone vorgesehen. Die Versorgung des neuen Zellengefängnisses in Moabit mit diakonischen Aufsehern und Betreuern war 1858 der Anlass für die Gründung der zweiten Wichernschen Diakonenanstalt, des Johannesstifts in Berlin. Als gleichwertiges Arbeitsfeld neben der Gefängnisarbeit steht in der Denkschrift von 1849 die Betreuung von Strafentlassenen in „Schutzvereinen“, die eine Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft und die Kirchengemeinde ermöglichen sollten.

Daneben wollte Wichern die Brüder als „Colporteure“ bei der Verbreitung von Bibeln, Traktaten und anderer christlicher Literatur einsetzen, doch dieser Arbeitsbereich entwickelte sich nicht in der Weise wie in England und Amerika, die bei der Schriftenkolportage als Vorbild dienten.

Einige Duisburger Brüder wirkten zum Zeitpunkt der Gründung des Central-Ausschusses bereits als Diakone in Kirchengemeinden. Dieses von Wichern an dritter Stelle genannte Arbeitsfeld stagnierte allerdings bis zur Jahrhundertwende, als die Finanzierung der Gemeindediakone durch landeskirchliche Zuschüsse auf eine stabilere Basis gestellt wurde. Erfolgreicher war unter den Bedingun-gen des 19. Jahrhunderts die von Vereinen der Inneren Mission getragene Stadtmission, in die Wichern die Rauhhäusler Brüder seit 1848, zuerst in Hamburg und Berlin, entsandt hatte. Weil sie nicht an die Strukturen der Kirchengemeinden gebunden waren, die den sozialen Verhältnissen der rapide wachsenden Großstädte vielfach nicht mehr entsprachen, konnten die Stadtmissionare flexibel auf die Bedürf-nisse einzelner Bevölkerungsgruppen reagieren. Der Stadtmissionar, dessen Tätigkeit das gesamte, sich zwischen Wohltätigkeit und Seelsorge rangierende Spektrum der Inneren Mission entfaltete, kann als der klassische Berufsarbeiter der Inneren Mission gelten.

Als weiteres Einsatzgebiet der Brüder bezeichnete Wichern die Tätigkeit als Hausväter und Gehilfen in Einrichtungen der „rettenden Erziehung aller Art“. Die sozialpädagogische Arbeit, die seit den Anfängen den Schwerpunkt der Ausbildung im Rauhen Haus und in den meisten anderen Brüderhäusern bildete, entwickelte sich rasch zum größten Arbeitszweig der Männlichen Diakonie: 1877 waren von 539 voll ausgebildeten Diakonen 154 in Rettungshäusern tätig, wobei sich der weitaus größte Teil, nämlich 115, in leitender Position befand.

Schließlich plante Wichern noch den Einsatz der Brüder als Agenten der Vereine und „Führer aller sonstigen Institute“ der Inneren Mission - ein weiter Bereich, zu dessen Spezifizierung er lediglich die Enthaltsamkeitsvereine näher benannte, zu dem in dieser Zeit aber insbesondere die Auswanderermission gehörte. Sie reagierte auf die im Vormärz sprunghaft angestiegene Auswanderungsbewegung nach Amerika, die von großem sozialem Elend und innerer Desorientierung begleitet war. Bereits Anfang der 1840er Jahre hatte Wichern die ersten fünf Brüder als Kolonistenprediger in die USA gesandt, wo sie als Diasporabetreuer den Aufbau kirchlicher Strukturen voranbringen und begleiten sollten.

Zwei weitere wichtige Arbeitsbereiche der Männlichen Diakonie entwickelten sich erst als Reaktion auf die Wichernsche Denkschrift: Zum einen die Wandererfürsorge, bei der die Diakone den überwiegenden Teil der Hausväter in Herbergen, später auch in Arbeiterkolonien und Wanderarbeitsstätten stellten, und zum anderen die Seemannsmission, die sowohl die seelsorgerliche und fürsorgerische Betreuung deutscher Seeleute in ausländischen Häfen als auch das Betreiben von Seemannsheimen in den Heimathäfen umfasste.

Ausbildungs- und Standesfragen

Als Betreuer von Auswanderern, Wanderarbeitern und Seeleuten waren die Diakone im Kernbereich der Inneren Mission tätig: Denn sie standen den Menschen gegenüber, die von der Ortskirchengemeinde nicht erfasst wurden. Zur Ausfüllung dieser Tätigkeitsgebiete bedurfte es flexibel einsatzbarer Kräfte, die leicht an neue Einsatzorte versetzt werden und sich aufgrund einer universalistischen Ausbildung schnell in neue Handlungsfelder einarbeiten konnten, und die zugleich in charakterlicher wie fachlicher Hinsicht ausreichend gefestigt waren, um in oftmals abgelegenen Gebieten weitgehend auf sich gestellt mit sozial schwierigen Klientengruppen zu arbeiten.

Dass „der bloß gute Wille und die einfache Gesinnungsäußerung“ angesichts dieser Anforderungen an die Berufsarbeiter der Inneren Mission bei weitem nicht ausreichten, hatte Wichern seit Beginn seiner Hamburger Arbeit betont. In der bereits zitierten Denkschrift von 1849 forderte er daher die Errichtung weiterer großer Bildungsinstitute nach dem Vorbild des Rauhen Hauses, die zum Zweck der praktischen Ausbildung mit Rettungshäusern oder anderen Anstalten der Inneren Mission verbunden sein sollten. Das von Wichern ausgebreitete Ausbildungsprogramm entsprach der Praxis im Rauhen Haus: Praktika in den verschiedenen Arbeitszweigen der Inneren Mission wechselten ab mit Lehrgängen im Brüderhaus, in denen die angehenden Brüder auf einen gemeinsamen Ausbildungsstand in den allgemeinbildenden Fächern gebracht, bibelkundlich geschult, theoretisch in das gesamte Gebiet der Inneren Mission eingeführt und mit wirtschaftlichen und handwerklichen Fertigkeiten ausgerüstet wurden.

Voraussetzung für die Aufnahme ins Brüderhaus war neben einem guten Leumund eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem Handwerk; in geringem Umfang wurden auch Lehrer und Landarbeiter, später auch kaufmännische Angestellte zugelassen, um eine Durchmischung der früheren Berufsfelder sicherzustellen. Die Dauer der Ausbildung war unterschiedlich, in der Regel aber bemerkenswert lang, zumal die „Jungbrüder“ meist schon eine Berufsausbildung hinter sich hatten; Wichern hielt eine vierjährige Ausbildungszeit für angemessen. Für die Persönlichkeitsbildung und den theoretischen Teil der Ausbildung standen ihm junge Kandidaten der Theologie als „Oberhelfer“ zur Seite, die durch die Beteiligung an der Brüderschaftsleitung für eigene Führungsaufgaben im Bereich der Inneren Mission vor-bereitet werden sollten.

Auf diesen Grundlagen breitete sich die Männlichen Diakonie seit 1850 (Gründung der Brüderanstalten in Züllchow/Pommern und Neinstedt/Harz) stetig aus. Die ältesten Diakonenanstalten sandten ihre Brüder noch in alle Teile Deutschlands, aber bald setzte sich die Überzeugung durch, dass jede größere Landeskirche oder Kirchenprovinz ein Brüderhaus benötigte. 1877 - ein Jahr, nachdem sich die Leiter der Diakonenanstalten als „Konferenz der Brüderhausvorsteher“ konstituierten - zählte die Männliche Diakonie etwa 650 Brüder aus acht Brüderhäusern. Kurz nach der Jahrhundertwende verteilten sich 17 Brüderhäuser flächendeckend über Deutsch-land. Mit etwa 2.500 Diakonen war ein solider Stand an männlichen Mitarbeitern der Inneren Mission erreicht; danach expandierten zwar die einzelnen Brüderschaften weiter, aber es kam nur noch vereinzelt zu Neugründungen.

Obwohl die Zahl der Diakone selten mehr als ein Zehntel der in Deutschland tätigen Diakonissen betrug, stand ihre Bedeutung nicht hinter der der Weiblichen Diakonie zurück. Entscheidend war dafür nicht ihre Zahl, sondern ihre Multiplikatorenfunktion. Die Diakone stellten fast die gesamte qualifizierte männliche Mitarbeiterschaft im kirchlich-diakonischen Bereich, soweit es sich um Nicht-Akademiker handelte, und bildeten damit die mittlere Leitungsebene innerhalb der Inneren Mission. Natürlich gab es stets auch andere männliche hauptamtlich Beschäftigte in Einrichtungen der Inneren Mission - Krankenwärter, Handwerker und Hilfsarbeiter, Sekretäre, Lehrer und verschiedene andere, christlich gesinnte Männer in Hausväter- und Verwalterstellen - doch diese hatten entweder keine diakoniespezifische Fachausbildung oder sie verstanden sich nicht in erster Linie als Repräsentanten des Geistes der Inneren Mission. Eine wirkliche Konkurrenz zu den Diakonen stellten sie deshalb nicht dar. Erst durch das verstärkte Auftreten „freier Brüder“ seit Ende des 19. Jahrhunderts, die zumeist als Sekretäre von Jünglingsvereinen, Prediger oder Schriftenkolporteure tätig waren und vielfach der pietistischen Gemeinschaftsbewegung nahestanden, wurde die Monopolstellung der Brüder innerhalb der Inneren Mission kurzzeitig in Frage gestellt. Eine Konkurrenz aus dem nicht-konfessionellen Bereich existierte hingegen im 19. Jahrhundert faktisch nicht, denn qualifizierte männliche soziale Berufsarbeit wurde bis zum Ende des 1. Weltkriegs außerhalb der Männlichen Diakonie nur noch in katholischen Männerorden praktiziert.

Aus der Mittelstellung zwischen akademisch gebildeten Theologen und diakonischen Mitarbeitern ohne fachliche Qualifikation resultierte allerdings auch ein Standesproblem, das die Männliche Diakonie seit der Jahrhundertwende begleitete. Bis dahin waren Konkurrenzverhalten und Kompetenzkonflikte zwischen Pastoren und Diakonen in nennenswertem Umfang nicht vorgekommen - zu groß waren die Bildungsunterschiede und das soziale Gefälle gewesen. Mit zunehmender Professionalisierung des Diakonenberufs wurde Diakonen aber vor allem im Bereich der Kirchengemeinden zunehmend Funktionen übertragen, die zuvor allein Pastoren vorbehalten gewesen waren, was bei den Theologen den Verdacht schürte, dass sich die Männliche Diakonie zu einem „clerus minor“, einem Stand von Geistlichen zweiten Grades, entwickeln könnte. Die Diakone wollten ihrerseits eine Klärung ihres Status herbeiführen, indem sie von der verfassten Kirche die Anerken-nung ihres kirchlichen Aufgabenbereichs, des Diakonats, als eines vollwertigen kirchlichen Amtes neben dem Pastorenamt forderten - ein Ziel, das trotz vielfacher Anläufe bis heute nicht erreicht worden ist.

Männliche und Weibliche Diakonie

Eine Abgrenzung von den Diakonissen und anderen weiblichen Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission erschien weniger notwendig, denn die geschlechtsspezifische Rollenverteilung war bis zum Ende des Kaiserreiches eindeutig. Die getrennte Entwicklung der Männlichen und der Weiblichen Diakonie, die sowohl Parallelen als auch deutliche strukturelle und konzeptionelle Unterschiede hervorbrachte, ist keine typisch konfessionelle Erscheinung, sondern spiegelt die in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts übliche geschlechtsspezifische Aufteilung der Arbeits- und Lebensbereiche wider.

Wesentliche Merkmale der Männlichen und der Weiblichen Diakonie sind gleich: Die Überzeugung, zum Dienst der Inneren Mission berufen zu sein, also dem Ruf in die Nachfolge Jesu zu folgen, prägte (und prägt) das Selbstverständnis der Diakone und Diakonissen gleichermaßen und markiert den entscheidenden Unterschied zu anderen, „weltlichen“ Berufsauffassungen. Gemeinsam ist beiden Gruppen auch die über die Ausbildung hinausgehende, lebenslange Bindung an die diakonische Gemeinschaft, die nicht zuletzt der gegenseitigen Bestätigung und Überprüfung der Glaubens- und Lebenshaltung der Brüder und Schwestern diente. Die Bindung an die Gemeinschaft war besonders nach der Aussendung in Arbeitsstellen wichtig, in denen Diakone und Diakonissen kirchenfremden Einflüssen ausgesetzt waren. Diese Delegierung in auswärtige Stellen geschah nach dem „Sendungsprinzip“: In Unterordnung unter den Willen ihres Vorstehers übernahmen Diakone und Diakonissen die für sie ausgewählten Arbeitsstellen, wo sie auch weiterhin der ständigen geistlichen Obhut ihres Brüder- beziehungsweise Mutterhauses unterstanden. Ausschlaggebend für das Sendungsprinzip waren nicht nur disziplinarische Gründe, sondern vor allem auch der Gedanke der ständigen Verfügbarkeit und vorbehaltlosen Einsatzbereitschaft der Diakone und Diakonissen. Bei aller Strenge der inneren Führung wurde zugleich großer Wert auf die fachliche und persönliche Selbständigkeit der ausgesandten Brüder und Schwestern gelegt. Das Sendungsprinzip stellt den markantesten Baustein eines in Selbstaufopferung kulminierenden Dienstideals dar, das Männliche und Weibliche Diakonie ebenfalls verbindet. „Mein Lohn ist, dass ich darf!“, lautet der zentrale Satz des Diakonissenspruchs des fränkischen Mutterhausvorstehers Wilhelm Löhe (1808-1872), der auch Generationen von Diakonen als Appell an ihr Dienstideal vorgehalten wurde.

Diese Gemeinsamkeiten bestimmten den Geist und die innere Organi-ation der diakonischen Berufskräfte. In wichtigen äußeren Aspekten des privaten und beruflichen Lebens bestanden hingegen gewichtige Unterschiede, die aus den verschieden definierten Geschlechterrollen resultierten: So war zu keiner Zeit daran gedacht, die Brüder zur Ehelosigkeit zu verpflichten. Dabei waren nicht theologische, sondern zeitbezogene gesellschaftliche Gründe ausschlaggebend. In einer sozialen Atmospähre, in der der Lebensberuf einer Ehefrau in der Hingabe an ihre Familie gesehen wurde, war Frauenarbeit, die nicht über den Ehemann definiert war, nur in der Ehelosigkeit akzeptabel. Für Männer galt diese Beschränkung nicht. Zwar wurde während der Ausbildungszeit, in der die Diakonenschüler zur Unterhaltung einer Familie nicht in der Lage waren, streng auf Keuschheit geachtet und jede heimliche Verlobung mit Ausschluss aus dem Brüderkreis quittiert. Mit der Entsendung in eine feste Stelle mit ausreichender Besoldung war die Verheiratung des Diakons jedoch geradezu erwünscht, denn als Hausvater einer diakonischen Einrichtung kamen nur solche Brüder in Betracht, denen eine Ehefrau als vollberuflich tätige Hausmutter zur Seite stand.

Aus der unterschiedlichen Stellung von Diakonissen und Diakonen gegenüber Ehe und Familie ergab sich ein weiterer bedeutsamer Unterschied zwischen beiden Berufsgruppen in wirtschaftlicher Hinsicht: Im Gegensatz zu den Diakonissen, die in der Regel neben Kleidung, Kost und Logis nur ein bescheidenes Taschengeld bekamen, erhielten die Diakone grundsätzlich ein festes Gehalt, auf das mögliche Sachleistungen angerechnet wurden. Diese Ungleichbehandlung ergab sich vor allem aus der Tatsache, dass man den ausgesandten Brüdern mit der Heiratserlaubnis auch die Möglichkeit zum selbständigen Unterhalt einer Familie einräumen musste. Als mit dem allgemeinen Anstieg des Lebensstandards das Gehalt zu mehr als dem bloßen Familienunterhalt reichte, ermöglichte diese Regelung den Diakonen eine gewisse Unabhängigkeit vom Brüderhaus, wohingegen die Diakonissen auch wirtschaftlich lebenslang an ihr Mutterhaus gebunden blieben und ihren Ruhestand im dortigen „Feierabendhaus“ verbrachten.

Der geschlechtsspezifischen Aufteilung der Arbeits- und Lebensbereiche entsprechend waren bestimmte Betätigungsfelder den Diakonissen und andere den Diakonen zugeordnet: So wie die Pflege kranker Frauen und die Gemeindekrankenpflege sowie die Kleinkinderpflege und -erziehung allein den Diakonissen vorbehalten blieb, waren die Betreuung von wanderndern Arbeitern und Seeleuten, von männlichen Fürsorgezöglingen und Strafgefangenen sowie die Arbeit der Stadtmission genuine Arbeitsbereiche der Diakone. Männliche und weibliche Arbeitsfelder definierten sich dabei in erster Linie über die Klienten, deren Betreuung nach Geschlechtern getrennt erfolgte. Die Entstehungsgeschichte des Duisburger Diakonenhauses macht dies deutlich: Ein entscheidender Grund für dessen Errichtung war der Bedarf an qualifizierten Krankenpflegern zur Pflege von Männern gewesen.

Die Unterscheidung von Frauen- und Männerkrankenhäusern setzte sich aber nicht durch, und die zahlenmäßige Dominanz der Krankenschwestern führte dazu, dass auch kranke Männer von Frauen gepflegt wurden. In anderen Arbeitsfeldern, insbesondere im Bereich der Sozialfürsorge, ging die Geschlechtertrennung aber so weit, dass bestimmte Formen gesellschaftlich abweichenden Verhaltens als typisch männlich, andere als typisch weiblich gedeutet wurden. So wie etwa die Alkoholabhängigkeit nur bei Männern wahrgenommen wurde, galt die sexuell-sittliche Gefährdung fast ausschließlich als weibliches Problem. Folglich war die „Trinkerfürsorge“ eine Domäne der Diakone, während die Arbeit mit „Gefallenen“ im Bereich der Inneren Mission allein von Diakonissen und Fürsorgerinnen ausgeübt wurde.

„Können Männer pflegen?“

Hinter der geschlechtsspezifischen Trennung von Klienten und Arbeitskräften stand zugleich die Vorstellung unterschiedlicher Begabungen von Männern und Frauen im Bereich der missionarisch-diakonischen Tätigkeiten - ein Phänomen, das im 19. Jahrhundert allerdings nicht weiter problematisiert wurde. Erst als diese geschlechtsspezifische Rollenverteilung infrage gestellt wurde, setzte ihre Reflexion ein und erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Aus den dreißiger Jahren stammt der Text einer „Diakonischen Lebens- und Berufsordnung“, die Diakonen zur Einsegnung mitgegeben wurde, und in der es heißt: „Diakonissendienst ist wie der Dienst einer Mutter, die sich über ihr krankes Kind beugt, Diakonendienst ist wie der Dienst des Christophorus, der auszog, dem Stärksten zu dienen und im Dienst Jesu Heil und Frieden fand. … Männliche Diakonie erfordert ganzes Mannestum.“

Solche Sätze wurden aus einer Position der Defensive formuliert, in die die Diakone nicht nur wegen des um sich greifenden Männlichkeitswahns der Nationalsozialisten geraten waren, gegenüber dem die karitative und religiöse Betätigung von Männern als Zeichen von Schwächlichkeit erscheinen mochte. Tatsächlich trieben die Nationalsozialisten lediglich eine Entwicklung auf die Spitze, die in der Gesellschaft schon weit früher Platz gegriffen hatte und im Bereich der Wohlfahrtspflege ihre besondere Ausformung fand. Die bürgerliche soziale Frauenbewegung, zu der auch die protestantischen Frauenverbände zählten, hatte seit der Jahrhundertwende mit wachsendem Erfolg das Prinzip der „geistigen Mütterlichkeit“ vertreten, mit dem die weibliche Sozialarbeit exklusiv begründet wurde. Männliche Vorurteile, nach denen Frauen wegen „überbordender Emotionalität“ zu vernunftgeleitetem Handeln angeblich nicht fähig seien und deshalb im Konkurrenzkampf der modernen Berufwelt nicht bestehen könnten, wurden von diesen Frauen offensiv aufgenommen und der Männerwelt mit umgekehrten Vorzeichen vorgehalten: Gerade weil die Frauen wegen ihres bewahrenden, hegenden und pflegenden Geschlechtscharakters besonders geeignet seien zur Überbrückung der sozialen Gegensätze, seien sie dazu aufgerufen, durch soziales Handeln die Schäden der Gesellschaft zu beheben, die die männlichen, kapitalistischen Prinzipien von Konkurrenz, Eigennutz, Spezialisierung und Bürokrati-sierung hervorgebracht hätten. „Geistige Mütterlichkeit“ wurde somit zur besonderen Kulturaufgabe der Frau erhoben und fand ihren Ausdruck in sozialem Handeln, zu dem die angehenden Wohlfahrtspflegerinnen in „Sozialen Frauenschulen“ zusätzlich aus-gebildet wurden. Wo Mütterlichkeit zum Beruf erhoben wurde, war den Männerargumenten gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen der Boden entzogen. Damit besetzte die bürgerliche soziale Frauenbewegung das Feld der Sozialarbeit als weibliche Domäne.

Die Konsequenzen dieser erfolgreichen Strategie, die vor allem mit dem Namen Alice Salomons verbunden ist, wurden zu Beginn der zwanziger Jahre spürbar, als die ersten hauptamtlichen Stellen im Bereich der öffentlichen Wohlfahrtspflege fast ausschließlich an Frauen vergeben wurden. Die Diakone fürchteten, von einem rasch expandierenden, gut und scheinbar sicher dotierten Arbeitsfeld von vornherein ausgeschlossen zu werden. Zugleich bedrohte die Behauptung der Sozialarbeit als typisch weiblicher Tätigkeit ihr Selbstverständnis.

Selbstbehauptung durch Modernisierung

Die Männliche Diakonie reagierte auf diese Herausforderungen des entstehenden Wohlfahrtsstaates mit einer Qualifizierungs- und Professionalisierungskampagne. Insbesondere der „Deutsche Diakonenverband“, zu dem sich sämtliche Brüderschaften 1913 zusammengeschlossen hatten, drängte auf eine intensivere und spezialisiertere Ausbildung in den Brüderhäusern unter Berücksichtigung der Fächer Pädagogik, Psychologie und Sozialrecht. Ende der zwanziger Jahre konnten die Brüder in den großen Diakonenanstalten neben der kirchlich-diakonischen Qualifikation auch die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspfleger erwerben. Das änderte zwar nichts daran, dass das Erscheinungsbild der öffentlichen Wohlfahrtspflege weiblich blieb, stellte aber sicher, dass die Diakone bei ihrer Stellenwahl nicht auf den Bereich von Diakonie und Kirche beschränkt waren.

Die stärkere Professionalisierung der Diakone und ihre Organisation in einem Berufsverband sorgte auch für eine zunehmende Emanzipation der Diakone von ihren Vorstehern, bei denen es sich durchweg um Theologen handelte - ein langfristiger Trend, der durch das „Dritte Reich“ nur unwesentlich beeinträchtigt wurde. Das Sendungsprinzip wurde weniger streng gehandhabt und die „Brüderräte“, wie die Selbstverwaltungsorgane der Brüderschaften hießen, erhielten allmählich mehr Mitsprache bei Entscheidungen der Brüderhausleitung. Der gesellschaftspolitische Wandel in Westdeutschland seit Mitte der sechziger Jahre beschleunigte diese Entwicklung in bis dahin ungeahnter Weise und erschütterte erstmals nachhaltig das Berufsbild der Diakone, wie auch das der Diakonissen. Die geschlechtsspezifische Unterscheidung von männ-icher und weiblicher Sozialarbeit fand in der Gesellschaft kaum noch Rückhalt. Nach langwierigen, tiefgreifenden Diskussionen in den Brüderschaften zeigte die Männliche Diakonie, dass sie bereit war, auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu reagieren und öffnete den Diakonenberuf für Frauen. Die erste Diakonin, wie sie zur Unterscheidung von den Diakonissen bezeichnet wurde, trat 1968 in Hamburg in eine Brüderschaft ein. Inzwischen bilden Frauen in etlichen Ausbildungskursen bereits die Mehrheit, und seit Mitte der achtziger Jahre wurden die zuvor ausschließlich männlichen Bezeichnungen (Brüderhaus, Brüderschaft etc.) allmählich ersetzt. Heute sind etwa 10.000 Diakoninnen und Diakone aus 23 Gemeinschaften in Diakonie, Kirche und öffentlicher Wohlfahrtspflege tätig.

Autor: Michael Häusler

Literatur:

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Häusler, Michael, „Die Brüderhausvorsteherkonferenz - Beispiel für die Institutionalisierung der Inneren Mission im Kaiserreich“, in: Theodor Strohm / Jörg Thierfelder (Hgg.), Diakonie im Deutschen Kaiserreich (1871-1918) (Veröff. d. Diakoniewiss. Inst. a. d. Universität Heidelberg, 7), Heidelberg 1995.

Häusler, Michael, „Dienst an Kirche und Volk“. Die Deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung (1913-1947), (Konfession und Gesellschaft, 6), Stuttgart 1995.

Hildemann, Klaus / Kaminsky, Uwe / Magen, Ferdinand, Pastoralgehilfenanstalt - Diakonenanstalt - Theodor Fliedner Werk. 150 Jahre Diakoniegeschichte (Schriftenreihe d. Vereins f. Rheinische Kirchengeschichte, 114), Köln 1994.

Nicol, Karl, Diakonische Lebens- und Berufsordnung, hg. v. d. Deutschen Diakone-schaft, Berlin o.J. [1936].

Sachße, Christoph / Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988.

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