Das Recht der Diakonie – Satzungsprobleme und Strukturen

Der Central-Ausschuss

Die Geschichte der Strukturen der Diakonie ist nicht nur eine Frage ihrer inneren Organisationsform. Sie war von Anfang an begleitet von dem Grundthema, wie ihr Verhältnis zum Staat und zur Kirche in rechter Weise zu bestimmen sei.

Der aus der Wittenberger Kirchenversammlung vom September 1849 hervorgegangene Central-Ausschuss für die Innere Mission legte in seinem von Wichern entworfenen Programm Wert auf die Feststellung, eine der Kirche dienende Stelle zu sein. So setzte er sich zur Aufgabe, einen Mittelpunkt für die innere Missionstätigkeit im gesamten deutschen Vaterland zu bilden und die bereits bestehenden oder sich neu bildenden Anstalten der Inneren Mission zu gegenseitiger Hilfestellung zu verknüpfen. Mit der Bildung von ‚Konferenzen’ wurde die spätere Entwicklung zu diakonischen Fachverbänden und Fachkonferenzen vorgezeichnet, während sich mit der Entstehung von ‚Konföderationen’ vor allem die Hoffnung verband, dass es durch sie zu einer freien und richtigen Einigung mit den vorhandenen kirchlichen Institutionen kommen werde. Zu diesem Zweck wurde auch einmal jährlich ein Kongress für Innere Mission vorgesehen.

Der Central-Ausschuss bestand aus den beiden Präsidenten der Wittenberger Kirchenversammlung – das waren zunächst Moritz von Bethmann-Hollweg und Friedrich Julius Stahl – und zwei anderen hinzugewählten Mitgliedern, denen es überlassen war, die Mitgliedzahl durch Kooptation zu ergänzen. Als Sitz des Central-Ausschusses bestimmte die Satzung die Städte Berlin und Hamburg. Als publizistisches Organ fungierten die ‚Fliegenden Blätter des Rauhen Hauses bei Hamburg’. Die Geldmittel für den Central-Ausschuss sollten durch freiwillige Beiträge beschafft werden.

Vom Central-Ausschuss zum Centralverband

Die 1849 beschlossenen Statuten blieben – mit leichten Modifizierungen von 1878 – bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Kraft. Der Central-Ausschuss war nach diesen Statuten nicht mehr als eine Versammlung von Honoratioren, deren Aufgabe sich im Wesentlichen darauf beschränkte, Kontakte zu pflegen, bestehende Einrichtungen zu fördern, die Gründung neuer anzuregen und die Tätigkeit der Inneren Mission zu koordinieren. Er hatte dagegen keinerlei Vertretungsrechte für den Gesamtbereich der Inneren Mission gegenüber den staatlichen Instanzen im Reich und in den Ländern oder sonst in der Öffentlichkeit. Als Defizit erwies sich auch die fehlende Ausstattung mit hauptamtlichen Vereinsgeistlichen. Diese Situation änderte sich erst mit der Gründung des ‚Centralverbandes der Inneren Mission’, dessen Satzung am 1. Januar 1921 in Kraft trat. Dieser Centralverband bestand aus dem Central-Ausschuss der Inneren Mission, den ihm angeschlossenen Landes- und Provinzialausschüssen, -vereinen oder -verbänden und den Fachverbänden, deren Tätigkeit über die Grenzen eines Landes oder einer Provinz hinausging, wobei deren Freiheit in vollem Umfang gewahrt blieb. Die Geschäftsführung lag in den Händen des Central-Ausschusses, dem nun auch das Recht zukam, die Vertretung in der Öffentlichkeit, insbesondere gegenüber den Behörden wahrzunehmen.

Mit der Gründung des Centralverbandes war ein wesentlicher Schritt zur organisatorischen Neuordnung getan, der es der Inneren Mission erlaubte, sich als moderner Verband der freien Wohlfahrtspflege darzustellen und als solcher gegenüber den Behörden aufzutreten. Die neue Satzung litt freilich an Unebenheiten, weil sie zu einem Nebeneinander von Central-Ausschuss und Centralverband führte und den Antagonismus zwischen der bisherigen ‚aristokratischen’ Leitungsstruktur des Central-Ausschusses durch auf Lebenszeit berufene Einzelpersönlichkeiten und einem demokratischen Leitungsprinzip, wie es durch die Vertreter der Verbände, Ausschüsse und Vereine repräsentiert wurde, nicht überwand. Das führte in der Folgezeit zu heftigen Auseinandersetzungen, die schließlich zur Satzung des Central-Ausschusses vom 23. April 1929 und zum vollständigen Sieg der Provinzial- und Fachverbände über die ‚Altherrenriege’ führten.

Die geschilderte Entwicklung zeigt, dass die Innere Mission zwar von Anfang an eine enge Verbindung zur Kirche angestrebt, ihre Rechtsform aber außerhalb der kirchlichen Verfassungsstrukturen entwickelt hat. Eine Ursache dafür wird man in der Tatsache suchen dürfen, dass die Struktur der Inneren Mission zwar ideell von kirchlichen Amtsträgern getragen worden ist, ihre materielle Existenzgrundlage aber von wirtschaftlich potenten Laien geschaffen werden musste. Von daher bestand ein notwendiger innerer Zusammenhang zwischen der Finanzierung der Inneren Mission einerseits und ihrer privatrechtlichen Organisationsform andererseits. Es galt lange Zeit der Grundsatz, dass Kirchensteuermittel nicht für soziale Zwecke verwendet werden dürfen. Das Verhältnis der Inneren Mission zur verfassten Kirche war von der Vorstellung bestimmt, es sei nicht Sache der Kirche, diakonische Aufgaben selbst zu übernehmen.

Die Innere Mission im Kirchenkampf des ‚Dritten Reiches’

Bereits vor 1933 ergaben sich Bemühungen der Landeskirchen und des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, in den Leitungsgremien der Inneren Mission größeren Einfluss zu gewinnen. Ein wesentlicher Punkt in dieser Entwicklung war der Skandal um die finanziellen Unregelmäßigkeiten der Deutschen Evangelischen Heimstättengesellschaft (Devaheim) Ende 1931, durch den auch das öffentliche Ansehen der Kirche stark beschädigt worden ist. Das Ziel war eine grundsätzliche Änderung des Verhältnisses der Kirche zu den freien Verbänden im Sinne ihrer ‚Verkirchlichung’.
Diese Tendenz musste vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Staates, der aus ideologischen Gründen auf eine ‚Gleichschaltung’ aller gesellschaftlichen Lebensbereiche abzielte, zusätzlichen Auftrieb bekommen. Die Bemühungen der Deutschen Christen waren deshalb schon bald darauf gerichtet, die Innere Mission in der neu entstehenden Reichskirche zu verankern und sie organisatorisch der Konsistorialbürokratie zu unterstellen. Das freilich scheiterte nicht zuletzt an der Organisationsstruktur der Inneren Mission, die Veränderungen ‚von oben’ nicht ohne weiteres zuließ. Die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) vom 14. Juli 1933 beschränkte sich deshalb in ihrem Artikel 4 Nr. 3 auf die Aussage: „Die freie kirchliche Arbeit von gesamtkirchlicher Bedeutung, insbesondere auf dem Gebiete der Inneren und Äußeren Mission, nimmt sie in ihre fördernde Obhut.“

Auf der anderen Seite war verständlicherweise auch die sich formierende Bekennende Kirche darum bemüht, die freien Verbände auf ihre Seite zu ziehen. Die Bekenntnissynode von Barmen im Mai 1934 forderte diese deshalb zu einer klaren Standortbestimmung zugunsten der Bekennenden Kirche auf. Die Innere Mission hat sich freilich zunächst in die damaligen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen nicht unmittelbar hineinziehen lassen und es – trotz unterschiedlicher Positionen und harter interner Auseinandersetzungen – verstanden, nach außen hin einen ‚neutralen’ Kurs zu fahren. Durch die Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Staat war die Innere Mission allerdings in zunehmendem Maße gezwungen, ihr Verhältnis zur Kirche endgültig zu klären. Sie musste dabei das Kunststück vollbringen, sich einerseits des Schutzes der Kirche vor staatlichen Übergriffen zu versichern, andererseits aber versuchen, eine völlige Unterstellung unter die Leitungsgewalt der Kirche zu vermeiden.

Gründung des Hilfswerks

Der Kirchenkampf hat Klarheit darüber geschaffen, dass das ‚harmlose Programm eines gleichgesinnten Nebeneinanders’ keine tragfähige Grundlage mehr sein kann, das Verhältnis von Kirche und Diakonie zueinander zu bestimmen. Die historische Entwicklung hat ihren Weg genommen von einer Diakonie neben der Kirche zu einer Diakonie der Kirche.

Eine wichtige Station auf diesem Wege war die Gründung des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter dem maßgeblichen Einfluss von Eugen Gerstenmaier kam es bereits bei der ersten Kirchenkonferenz in Treysa vom 27. bis 31. August 1945 zur Proklamation eines von der Kirche selbst getragenen Hilfswerkes. Dies führte zunächst zur Gründung von Hilfswerken in den einzelnen Landeskirchen, bevor nach der Gründung der EKD 1948 eine erste vorläufige Ordnung für ein ‚Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland’ als Kirchengesetz erlassen werden konnte. Die Evangelische Kirche in Deutschland bekennt sich in Artikel 15 ihrer heute noch gültigen Grundordnung vom 13. Juli 1948 dazu, dass „die diakonisch-missionarischen Werke Wesens- und Lebensäußerung der Kirche“ sind.

Aufgaben des Hilfswerkes waren vor allem die Unterstützung der Arbeit der gliedkirchlichen Hilfswerke sowie die Vertretung gemeinsamer Interessen im In- und Ausland. Organe des Hilfswerks waren der Hilfswerksausschuss, der Verwaltungsrat und das Zentralbüro mit Sitz in Stuttgart. Zusammen mit dem Hilfswerksgesetz wurde ein eigenes Gesetz über den Diakonischen Beirat der Evangelischen Kirche in Deutschland verabschiedet, dem die Aufgabe zufiel, den in Artikel 15 der Grundordnung umschriebenen diakonischen Auftrag zu fördern.

Zusammenschluss von Innerer Mission und Hilfswerk

Mit der Entstehung des Hilfswerks war auch die Innere Mission gezwungen, ihr Verhältnis zur verfassten Kirche neu zu überdenken. Das ‚Diakonische Werk der EKD e.V.’ in seiner heutigen Form ist das Ergebnis eines langen und kontroversen Prozesses. Dieser begann 1957 mit dem Zusammenschluss des Central-Ausschusses für die Innere Mission und des Hilfswerkes. In rechtlicher Hinsicht erfolgte der Zusammenschluss durch das Kirchengesetz vom 8. März 1957, mit dem die zwischen der EKD und dem Central-Ausschuss vereinbarte Ordnung vom selben Tag bestätigt und das neue Werk ‚Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland’ als ‚Werk der Kirche’ gemäß Artikel 15 der Grundordnung anerkannt wurde. Die Rechte und Pflichten des Hilfswerks wurden künftig von dem neuen Werk wahrgenommen. Die Aufgaben des Hilfswerksausschusses und des Verwaltungsrates wurden den neuen Organen Diakonische Konferenz und Diakonischer Rat übertragen. An die Stelle des Zentralbüros des Hilfswerks trat die Hauptgeschäftsstelle des Werkes mit Sitz in Stuttgart und eine Berliner Stelle für besondere Aufgaben.

Eine parallele Entwicklung der Fusion von Innerer Mission und Hilfswerk hat in den Gliedkirchen der EKD stattgefunden. Im Bereich des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR ist nach der Trennung von den westlichen Gliedkirchen durch das Kirchengesetz vom 29. Juni 1970 ein eigenes Werk ‚Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik’ geschaffen worden, das nach der staatlichen Vereinigung mit dem Diakonischen Werk der EKD wieder zusammengeführt worden ist.

Diakonisches Werk der EKD e.V.

Die endgültige Fusion von Innerer Mission und Hilfswerk zum ‚Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V.’ ist durch das Kirchengesetz über das Diakonische Werk vom 6. November 1975 erfolgt. Nach §1 dieses Gesetzes nimmt die EKD ihre diakonische Aufgabe unter Mitverantwortung ihrer Organe durch das Diakonische Werk wahr. Sie beauftragt das Diakonische Werk, diese Aufgabe für die EKD gegenüber den Gliedkirchen und ihren Werken, Verbänden und Einrichtungen, den anderen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, dem Staat und der Öffentlichkeit und gegenüber ökumenischen Partnern zu vertreten.

Diakonie im freiheitlich demokratischen Sozialstaat

Die geschilderte Entwicklung hat dazu geführt, dass heute die verfasste Kirche und ihre Diakonie über personelle Verflechtungen hinaus auch rechtlich und institutionell miteinander verbunden sind. Darin liegt ein grundlegender Wandel gegenüber den Anfängen der Inneren Mission. Unverkennbar ist, dass das Recht der verfassten Kirche die privatrechtlichen Organisationsformen der Diakonie immer stärker durchdringt und überlagert, ohne diese freilich völlig zu verdrängen. Dieser Prozess hat seine Ursache zum einen in den zunehmend komplizierten Lebensverhältnissen einer modernen Industriegesellschaft, die eine auch rechtlich und institutionell enge Verflechtung von Kirche und Diakonie erforderlich machen, zum anderen hat sich aber auch das Verständnis der Kirche für die christliche Liebestätigkeit und die sozialen Probleme seit der Zeit Johann Hinrich Wicherns grundlegend gewandelt. Gleichwohl hat sich die Diakonie ihre organisatorische Eigenständigkeit in den Formen des privaten Vereinsrechts gegenüber der öffentlich-rechtlich verfassten Kirche bewahrt. Die Auseinandersetzung, die darüber im Zusammenhang mit der Fusion von Innerer Mission und Hilfswerk in den 1950er Jahren geführt worden ist, ist im Ergebnis im Sinne der Tradition der Inneren Mission als rechtlich eigenständiger Verband entschieden worden. Als ihr wesentliches Erbe darf bis heute der Gedanke der Unabhängigkeit der Diakonie von der kirchlichen Bürokratie und damit auch von der öffentlich-rechtlichen Organisationsform der verfassten Kirche angesehen werden. Die privatrechtliche Organisationsform beruht heute aber weniger auf der historisch überholten grundsätzlichen Differenz zur verfassten Kirche, sondern entspricht eher Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und der sachlichen Notwendigkeit, wie sie sich aus der unterschiedlichen Aufgabenstellung ergeben.

Die Diakonie ist heute weitgehend in die sozialpolitischen Planungen des Staates eingebunden und in ihrer Finanzierung von Staatszuschüssen abhängig. In manchen Bereichen kommt ihr faktisch die Funktion einer Sicherstellung staatlicher Sozialaufgaben zu. Sie hat deshalb kaum noch die Möglichkeit, außerhalb staatlicher Sozialplanung und öffentlicher Finanzierungssysteme neue Aufgaben aufzugreifen und eigene Strategien zu entwickeln. So steht die Diakonie trotz ihrer privatrechtlichen Organisationsform heute eher in der Gefahr einer ‚Verstaatlichung’, gegen die sie sich nur durch ihre ‚Verkirchlichung’ wehren kann.

Autor: Jörg Winter

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