Geschichte der Sozialgesetzgebung

Das heutige sozialstaatliche Leistungssystem umfasst staatliche soziale Hilfe auf der einen und die selbst verwaltete, beitragsgestützte Sozialversicherung auf der anderen Seite. Die letztere macht den größten Teil des Sicherungssystems aus, stellt insbesondere Arbeitnehmern einen weit reichenden Schutz zur Verfügung und fängt existentielle soziale Risiken auf. Sie garantiert damit einen wesentlichen Teil der sozialen Sicherheit in unserer Gesellschaft.

Ursprünge der sozialen Absicherung

Die Gesetzgebung, die seit dem 19. Jahrhundert die Grundlage für die Entwicklung des Sozialversicherungsrechtes darstellt, geht auf Otto von Bismarck zurück: Dieser hat in den Jahren 1883, 1884 und 1889 mit den Sozialversicherungsgesetzen den Grundstein für die moderne Sozialversicherung gelegt. Dieser öffentlich-rechtlichen, vom Staat organisierten sozialen Absicherung auf gegenseitige Ansicherung gingen allerdings Vorgängermodelle voraus. Diese reichen bis in die Antike zurück und begegneten wieder als berufsständisches Hilfesystem der Zünfte und Gilden in den mittelalterlichen Städten. Diese ergänzten die den Stadtbewohnern vorbehaltene Unterstützung in Gestalt von städtischen Hospitälern, Witwen- und Waisenhilfe. Zu allen diesen Formen der sozialen Hilfe trat die Hilfe durch Klöster und wohltätige Stiftungen hinzu.

Die vergleichsweise abgeschlossenen, städtischen und berufsständischen Kreise kamen ebenso wie die Gutherrschaft erst mit der Aufhebung der Leibeigenschaft und mit der Garantie von Freizügigkeit und Gewerbefreiheit in Bewegung. Im gleichen Maß wie sich handwerklich geschickte Arbeiter durchsetzen und mit eigenen Unternehmen erhebliche finanzielle Erfolge verbuchen konnten, bewirkte der Wegfall der früheren Bindungen für andere den Verlust der Sicherungssysteme und den Abstieg in erhebliche Notlagen. Dabei waren die Arbeitsbedingungen in den entstehenden Fabriken in aller Regel so hart und die Einkommen aus dem dort gezahlten Lohn so niedrig, dass auch für die sich neu bildende Schicht der Fabrikarbeiter die Lebensumstände nur wenig glücklicher waren. Kinderarbeit war üblich, ohne dass viele Familien damit ein annähernd auskömmliches Familieneinkommen hätten erwirtschaften können.

Bismarcks Sozialgesetzgebung

Auf dieses offenbare Elend weiter Bevölkerungskreise reagierten verschiedene gesellschaftliche Kräfte. Im Bereich ihrer eigenen Betriebe übernahmen verantwortungsvolle Arbeitgeber die Sorge für die Linderung des Elends und von Notlagen der Belegschaft. Auf einer breiteren gesellschaftlichen Basis trat die von Johann Hinrich Wichern initiierte Innere Mission hinzu. Die politische Antwort auf die christlich motivierte Hilfe kam zunächst von Marx und Engels. Sie legten den Grundstein für die Bewegung der Sozialisten und die Bildung der Sozialdemokratischen Partei. Der Staat – in diesem Fall das 1871 begründete Deutsche Reich – nahm diese Bewegung als Bedrohung des bestehenden Systems wahr und reagierte in zweifacher Weise mit „Zuckerbrot und Peitsche“: Zum einen richteten sich die sog. Sozialistengesetze gegen die politische Bewegung und sollten möglichst schnell das Thema ablenken. Die Arbeiter als Klientel dieser Bewegung sollten mit staatlichen Wohltaten davon überzeugt werden, dass der Staat mehr als die Sozialdemokraten für die Abhilfe der schlimmsten Nöte tut. Auch wenn das taktische Kalkül nicht aufging, die Arbeiter auf diese Weise vom Zulauf zu den Sozialdemokraten abzuhalten, schufen die verabschiedeten Gesetze die Grundlage für das noch heute bestehende Selbstverwaltungssystem der Sozialversicherungen. Die ältesten Zweige dieses Sozialversicherungssystems sind damit die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Invaliden- und Altersversicherung. Seit ihrem Inkrafttreten waren die Gesetze immer wieder Gegenstand von Überarbeitungen; 1910 wurden sie in der Reichsversicherungsordnung (RVO) kodifiziert. Neben den drei Zweigen der Sozialversicherung enthält die RVO allgemeine gemeinsame Vorschriften (1. Buch), regelt die Zusammenarbeit der Versicherungsträger untereinander (5. Buch) sowie das Verfahren der Leistungserbringung (6. Buch).

Weimarer Republik: Weiterentwicklung und Ausweitung der Sozialversicherung

Nach dem Ersten Weltkrieg diktierten insbesondere die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Weimarer Republik das Programm und die inhaltliche Weitergestaltung des Sozialversicherungssystems. An vorderer Stelle standen dabei die Kriegsopferversorgung und die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit . Um das Risiko der Arbeitslosigkeit aufzufangen, schuf der Staat neben den bereits bestehenden Sozialversicherungszweigen eine weitere Säule der Absicherung. Diese Arbeitslosenversicherung ging schon damals über die finanzielle Unterstützung hinaus und leistete Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung. Die erste Bewährungsprobe während der Weltwirtschaftskrise, in deren Folge 1932 fast ein Drittel aller Arbeitnehmer ihre Beschäftigung verloren hatte, überforderte allerdings den neuen Versicherungszweig, der noch keine finanziellen Reserven hatte bilden können und der Inanspruchnahme nicht nachkommen konnte.

Nationalsozialistische Sozialversicherung

Im Dritten Reich verdrängte das Führerprinzip das bisherige System der Selbstverwaltung und unterstellte die soziale Absicherung der unmittelbaren staatlichen Lenkung. Daneben gab es insbesondere im Bereich der Arbeitslosenversicherung einen weiteren Paradigmenwechsel vom Versicherungs- zum Fürsorgeprinzip. Damit war anstelle der erbrachten Beitragsleistung die individuelle Bedürftigkeit Maßstab für die Leistungserbringung

Sozialgesetzgebung nach 1945 bis 1990

Wie nach dem Ersten beanspruchten auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vor allem die Folgen des Krieges, die daraus sich ergebenden Notlagen und der Wiederaufbau Priorität und ließen keinen Freiraum für grundlegende Reformen. Die inhaltliche Neugestaltung des Leistungssystems bedeutete zunächst in erster Linie Rückkehr zum gegliederten Leistungssystem mit Selbstverwaltung und Beitragsfinanzierung, was der Gesetzgeber mit der Errichtung bundesunmittelbarer Versicherungsträger verwirklicht hat. Eine wichtige Weichenstellung war die Verankerung des Sozialstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 GG.

Das materielle Sozialrecht als solches erfuhr eine wichtige Ergänzung insofern, als mit dem Jahr 1950 der Gedanke der staatlichen Entschädigung für erlittene Schäden Eingang in das Leistungsrecht fand. Das Bundesversorgungsgesetz traf Regelungen für die Eingliederung von Kriegsopfern in das Wirtschaftsleben und über die Entschädigung von bestimmten Verfolgten und Vertriebenen. Auch andere Gesetze haben den Gedanken aufgenommen und gewähren Entschädigung für Impfschäden und für Opfer von Gewalttaten. Der mit der Entschädigung verbundene Integrationsgedanke bestimmte auch das Schwerbehindertengesetz, das heute im SGB IX aufgegangen ist. 1962 trat zudem das Bundessozialhilfegesetz in Kraft, das die Sozialhilfe als nachrangige und bedarfsabhängige Unterstützung regelt.

Zudem nahm der Gesetzgeber die umfassende Kodifikation des Sozialrechtes im Sozialgesetzbuch in Angriff und löste damit die Reichsversicherungsordnung von 1911 ab. Anstatt allerdings ein Modell für die gesamte Kodifikation aller Regelungsbereiche abzuwarten, beschloss der Bundestag, diese Kodifikation schrittweise aufzubauen. 1976 und 1977 sind die ältesten Bücher in Kraft getreten, die als Buch I die allgemeinen Grundsätze und als Buch IV das Zusammenwirken der Sozialversicherungsträger regeln. 1989 kam mit dem Gesundheitsreformgesetz Buch V über die gesetzliche Krankenversicherung hinzu. Die „lückenhafte“ Nummerierung der einzelnen Bücher zeigt, dass dem Sozialgesetzbuch als Kodifizierung eine systematische Gliederung zugrunde liegt.

Sozialrechtsgeschichte seit der Wiedervereinigung

Die Zeit seit 1990 ist zum einen durch die Übertragung des bundesdeutschen Sozialrechts auf die neuen Bundesländer geprägt. Der Erste Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 zur Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion bewirkte die Angleichung des ost- an das westdeutsche Sozialrecht. Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 vollzog die Wiedervereinigung. Mit Einigungsvertrag trat das bundesdeutsche Sozialrecht in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen in Kraft. Das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) regelte die Übertragung und Anpassung der nach DDR-Recht erworbenen Rentenanwartschaften.

Bezogen auf das gesamte Bundesgebiet hat das Sozialgesetzbuch seit 1990 entscheidende Erweiterungen und beispielsweise mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz im Jahr 2005 wichtige Überarbeitungen erfahren. Neben den historischen Sozialversicherungsgesetzen hat das SGB auch Regelungsmaterien „aufgenommen“, die zuvor separat geregelt waren. Mittlerweile umfasst das Sozialgesetzbuch 12 einzelne Bücher, die neben Grundsätzen (SGB I) und Verfahrensvorschriften (SGB X und IV) die unterschiedlichen Sachgebiete des Sozialrechtes regeln. Das SGB umfasst dabei drei großen Bereiche: Zur beitragsfinanzierten sozialen Vorsorge zählen die historischen Sozialversicherungszweige. Als neuer, im SGB Buch XI geregelter Sozialversicherungszweig ist 1995 und 1996 die soziale Pflegeversicherung hinzugetreten.

Daneben steht die überwiegend aus Steuermitteln finanzierte soziale Förderung, die in Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz soziale Chancengleichheit verwirklicht. Hierzu gehören vor allem die Ausbildungs- und Berufsförderung (SGB III), die erst kürzlich überarbeitete Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und Teile der im SGB IX vorgesehenen Hilfe für behinderte Menschen (SGB IX). Schließlich beinhaltet das Sozialgesetzbuch Regelungen zur sozialen Hilfe, die das soziokulturelle Existenzminimum gewährleisten. Soziale Hilfe kommt nach dem Subsidiaritätsprinzip nur zum Tragen, wenn jede andere öffentliche oder private Unterstützung fehlt. Diesen Bereich regeln die zuletzt in das SGB aufgenommenen Gesetze: die Sozialhilfe gem. SGB XII und die aus der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe neu konzipierten Regelungen über die Grundsicherung für Arbeitsuchende gem. SGB II (das sog. „Hartz IV-Gesetz“) , die Langzeitarbeitslosen zukommt.

Ausblick und Weiterentwicklung der Sozialversicherung

Das langsame Anwachsen des SGB mag pragmatisch sein; es trägt aber das hohe Risiko in sich, dass die zahlreichen, gleichzeitig ablaufenden und teilweise durchaus gegenläufigen Regelungsprozesse die stimmige Entwicklung des Sozialgesetzbuches als Kodifikation behindern. In der Tat erweist sich das Sozialgesetzbuch als eine Groß-Baustelle, an der der Gesetzgeber seit Jahren in vielen Einzelabschnitten gleichzeitig arbeitet. Diese permanente Überarbeitung hat ihren maßgeblichen Grund in der starken Inanspruchnahme der Leistungssysteme und ihrer damit einhergehenden Überlastung. Für diese Entwicklung gibt es wirtschaftliche, fiskalische aber insbesondere auch demographische Gründe. Ein Warnsignal gab insoweit das Bundesverfassungsgericht. Denn es sah im Rentenrecht aufgrund der disparaten Gesetzesentwicklung einen Zustand der Rechtsunsicherheit als erreicht an, der mit dem Rechtsstaatsgebot unvereinbar war. Im Hinblick auf die nach wie vor zunehmende Zahl von Menschen, die auf soziale Unterstützung angewiesen sind, erscheint dies besonders bedenklich. Denn die Reformen haben eine erhebliche Breitenwirkung und Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Leistungssystemen gehen im Zweifel auf Kosten derjenigen, die auf die Leistung angewiesen sind.

Die ständige Weiterentwicklung macht einen umfassenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Reformen nahezu unmöglich. Einige der wichtigen jüngeren Reformgesetze sind mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz und dem sog. Hartz IV-Gesetz bereits erwähnt worden. Im Bereich der Altersvorsorge stellt die so genannte Riester-Rente einen neuerlichen Ansatz zur Entlastung der von der demographischen Entwicklung besonders betroffenen Rententräger dar. Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe haben schwere Fälle von Kindesmissbrauch und Vernachlässigung von Kindern Reformüberlegungen angestoßen, die Leistungserbringer, zum Beispiel Kindertagestätten, weitaus stärker als bislang in die Wahrnehmung des Kindesschutzes und damit in den Aufgabenbereich des Staates einbeziehen. Dagegen ist ein aus den Reihen der Bundesländer befürwortetes Reformgesetz zur finanziellen Entlastung der Kommunen gescheitert, das flächendeckend erhebliche Leistungskürzungen zu Folge gehabt hätte.

Dass die Groß-Baustelle in der näheren Zukunft zur Ruhe kommt, erscheint unwahrscheinlich. Vielmehr stehen mit der Gesundheitsreform und den Reformen der Pflege- und Rentenversicherung neuerliche Regelungsvorhaben bevor, die sich in ein ohnedies disparates Regelungssystem einfügen müssen. Nicht zuletzt ist noch zu klären, ob und wie genau sich die von der EU geplante Dienstleistungsrichtlinie auf die Sozialgesetzgebung auswirken wird.

Für die Zukunft wird man sich damit weiterhin auf eine intensive Tätigkeit des Gesetzgebers einzustellen haben. Die Sachzwänge aber, insbesondere der immense Kostendruck werden dem Gesetzgeber nur wenig Spielraum zu inhaltlichen Neugestaltungen lassen. Je enger der inhaltliche Gestaltungsspielraum wird, desto größeres Gewicht kommt als ausgleichendem Element der sorgfältigen Arbeit an der Abstimmung der Gesetzesvorhaben mit dem übrigen Sozialgesetzbuch zu. Der Gesetzgeber trägt insoweit eine doppelte und hohe Verantwortung: Noch wichtiger als die Verantwortung für die Rechtskultur ist dabei die Absicherung derjenigen, die im Sozialstaat auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.

Autorin: Friederike Mußgnug

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