Wissen kompakt: Armut
Wer gilt als arm? Was ist der Unterschied zwischen absoluter und relativer Armut? Dieses Wissen Kompakt gibt einen Überblick zur Definition von Armut sowie Zahlen und Hintergründen.
21.09.2021
Was Sie auf dieser Seite finden
Was bedeutet Armut
Die Sozialwissenschaft unterscheidet zwischen absoluter und relativer Armut. „Absolute Armut“ bedeutet, dass Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht decken können. Sie haben zum Beispiel nicht genug zum Essen, keine ausreichende Kleidung oder Wohnung oder ihre ärztliche Versorgung ist nicht gesichert.
Die Sicht auf „relative Armut“ bezieht auch die Lebens- und Entwicklungschancen in einer Gesellschaft ein, es geht also um soziale Ungleichheit. Wer relativ arm ist, hat beispielsweise schlechtere Bildungschancen, weniger soziale Kontakte und größere Schwierigkeiten als andere, beruflich aufzusteigen. Die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, das heißt die soziale und kulturelle Teilhabe, ist in vielerlei Hinsicht eingeschränkt.
Armut bedeutet, dass Menschen nicht die Teilhabemöglichkeiten haben, die in einer Gesellschaft als normal gelten, und zugleich materiellen Mangel erleiden.
Was bedeutet Armutsrisiko?
Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zum Leben hat, gilt nach der EU-Definition als armutsgefährdet bzw. einkommensarm. Dieses „Armutsrisiko“ betrifft fast ein Sechstel der Bevölkerung.
Rund ein Fünftel der Bevölkerung gilt als von „Armut oder sozialer Ausgrenzung“ betroffen. Dazu werden weitere Faktoren hinzugezogen, beispielsweise schlechter Arbeitsmarkzugang, Überschuldung, fehlende Mittel für kurzfristig nötige Reparaturen mit bis zu 1.000 Euro, nicht jeden Tag eine warme Mahlzeit, keine sichere Wohnkostenfinanzierung, Probleme mit Mobilität im Alltag oder Unmöglichkeit von wenigstens tageweisen Reisen mit der Familie in längeren Abständen.
Das Statistische Bundesamt beschreibt diese Faktoren, die mit dem statischen Instrument EU-SILC erhoben werden, konkret wie folgt: „Armut oder soziale Ausgrenzung sind bei EU-SILC gemäß EU-Definition dann gegeben, wenn eines oder mehrere der drei Kriterien „Armutsgefährdung", „erhebliche materielle Entbehrung", „Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung" vorliegen.“
Die Armutsrisikoquote ist in den letzten zehn Jahren über die Jahre gestiegen oder konstant geblieben. Selbst bei besonders guter wirtschaftlicher Lage ist sie kaum gesunken. Zudem wächst die gesellschaftliche Ungleichheit. Dies belegen Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung auf Basis der Langzeituntersuchungen auf Grundlage des sozioökonomischen Panels (SOEP). Das sozioökonomische Panel ist eine differenzierte Langzeitstudie, bei der seit 1984 in Deutschland jährlich 30.000 Menschen in 15.000 Haushalten befragt werden. Demnach ist die Ungleichheit bei den tatsächlich verfügbaren Haushaltseinkommen nach der Finanzmarktkrise von 2009 deutlich gestiegen. Zwar profitieren die meisten Haushalte von Einkommenszuwächsen seit 1991, nicht aber die Haushalte mit den geringsten Einkommen. Auch Armut trotz Arbeit nimmt in der Langzeitbetrachtung relativ zu. Beides betrifft in besonders hohem Maße Zugewanderte. Zudem verläuft die Armutsentwicklung regional sehr unterschiedlich. Insbesondere in städtischen Ballungszentren kommt es in den letzten 15 Jahren auch unabhängig von der durchschnittlichen Armutsentwicklung zu einer deutlichen Zunahme des Armutsrisikos um bis zu zehn Prozentpunkte.
Was bedeutet verdeckte Armut?
Zu „verdeckter Armut“ kommt es, wenn Menschen, denen staatliche Grundsicherungsleistungen („Hartz IV“) zustehen, ihren Anspruch nicht wahrnehmen. Nach den Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nehmen rund 40 Prozent der Leistungsberechtigten solche Leistungen nicht in Anspruch.
Ein wachsender Teil der Bevölkerung lebt in Armut, bezieht jedoch keine staatlichen Hilfen. Dies liegt zum einen daran, dass die Voraussetzungen für den Anspruch auf bestimmte Leistungen steigen. Viele Betroffene schämen sich zudem oder wissen nicht genau, was sie erhalten können. Auch nehmen immer mehr Menschen soziale Rechte wegen der damit verbundenen umfassenden Offenlegungspflichten der persönlichen Verhältnisse, Kontrollen und Sanktionen nicht in Anspruch
Hintergrund und Zahlen
Ursachen von Armut
Die Ursachen von Armut sind vielfältig. Häufig geraten Menschen in Armut, weil sie ihren Job verlieren, krank werden oder sich von ihrem Partner oder ihrer Partnerin trennen. Besonders gefährdet sind Alleinerziehende, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Frauen im Rentenalter; Menschen mit Migrationshintergrund sowie Familien mit mehr als zwei Kindern und Menschen mit geringen Bildungsabschlüssen.
Gesellschaftliche Benachteiligungen erhöhen das Armutsrisiko direkt, etwa fehlende Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Vollzeit- oder vollzeitnahe Angebote auf dem Arbeitsmarkt sind oft schlecht mit der Familie zu vereinbaren. Daher sind viele Mütter, insbesondere Alleinerziehende, nur in geringem Umfang erwerbstätig. Daher haben sie im Falle einer Entlasung wenig oder keine Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung. Rentenansprüche werden kaum aufgebaut; Altersarmut ist die Folge.
Viele Menschen werden als „ausländisch" durch schlechtere Arbeits-, Wohn- und Bildungsmöglichkeiten ausgegrenzt. Sie werden bei der Vergabe von Wohnungen übergangen, in Bewerbungsverfahren aussortiert oder in Bildungseinrichtungen mit vermeintlich schlechteren Leistungen in Verbindung gebracht. Diese Benachteiligungen werden beispielsweise im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (ARB) benannt und von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes immer wieder aufgedeckt. So haben etwa Kinder mit türkischem Nachnamen bei gleicher Leistung eine deutlich geringere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen.
Statistisch noch nicht aufbereitet sind die Folgen der Corona-Krise. Erste Erhebungen im Rahmen des ARB deuten auf einen Wiederanstieg der Langzeitarbeitslosigkeit hin. Nach den Erfahrungen der Diakonie verstärken der erschwerte Zugang zu Ämtern sowie coronabedingte Einschränkungen von Hilfemöglichkeiten die Armut.
Aktuelle Daten zur relativen Einkommensarmut
Der Mikrozensus ist seit 1957 vom Datenumfang her die differenzierteste statistische Erhebung zur Lebenssituation in Deutschland. Befragt werden von den Statistischen Landesämtern und dem Bundesamt für Statistik jährlich ein Prozent der Bevölkerung, das sind rund 810.000 Menschen in 370.000 Haushalten. Bei der Ermittlung des Armutsrisikos von Haushalten wird das gesamte Haushaltseinkommen nach einer Äquivalenzskala gewichtet. Eine erwachsene Person wird mit 1 gewichtet, weitere Erwachsene und Jugendliche mit 0,5, Kinder mit 0,3.
Die Daten nach dem Mikrozensus zeigen: Einkommensarmut in Deutschland stagniert über die Jahre auf hohem Niveau oder steigt langsam und stetig. Beim Armutsrisiko (2019 im Durchschnitt 15,9 Prozent) zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen, den Altersgruppen wie auch nach Familiensituation:
- Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden (42,7 Prozent), Menschen ohne Erwerbsarbeit (57,9 Prozent), Alleinlebenden (26,5 Prozent) und Personen mit Migrationshintergrund (27,8 Prozent) ist deutlich erhöht und liegt weit über dem Durchschnitt, mindestens knapp doppelt so hoch.
- Kinderreiche Familien (30,9 Prozent) haben ein erhöhtes Armutsrisiko.
- Das Armutsrisiko von Frauen (16,6 Prozent) ist in allen Altersgruppen höher als das von Männern (15,2 Prozent). Altersarmut nimmt insgesamt zu (15,7 Prozent), betrifft aber im überdurchschnittlichen Maße Frauen (17,4 Prozent) und weniger Männer (13,5 Prozent).
Kinderarmut ist in Deutschland sehr ungleich verteilt. Insbesondere Alleinerziehende und ihre Kinder haben ein deutlich überdurchschnittliches Armutsrisiko. 40 Prozent aller Alleinerziehenden leben mit Hartz-IV-Leistungen.
Die Entwicklung sozialer Lagen
Nach Analysen aus dem 6. Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) sind elf Prozent der Bevölkerung langjährig arm. Einen weitestgehend durch Armut geprägten Lebensstandard erleben darüber hinaus sechs Prozent der Bevölkerung.
Auffallend ist, dass der Verbleib in der spezifischen Einkommenssituation umso länger andauert, je schlechter die soziale Situation ist. Mehr als 60 Prozent der langjährig Armen verbleiben durchschnittlich 3,8 Jahre in Armut.
Ungleich verteilt ist auch die Arbeitslosigkeit. Der Anteil der in „Armut“ Lebenden an den arbeitslos Gemeldeten stieg von 14,8 Prozent in 1995 auf 64,7 Prozent in 2015.
Nicht nur bei der „Momentaufnahme“, die die jährlichen Zahlen zur relativen Einkommensarmut abbildet, zeigt sich das besondere Risiko etwa von Alleinerziehenden, Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinlebenden oder älteren Frauen. Die mit dem ARB erarbeiteten Analysen zur längerfristigen Entwicklung sozialer Lagen bestätigen diese Befunde und geben noch weitergehende Hinweise auf die besondere Bedeutung von schlechterem Bildungsniveau für eine langjährige Verfestigung von Armut.
Soziale Ungleichheit
Seit dem ersten ARB wird mit jedem neuen Bericht das gleiche Indikatorentableau fortgeschrieben. Wichtige Erkenntnisse, die sich hieraus im aktuellen Bericht ergeben, sind:
- Rund 23 Prozent des Gesamteinkommens liegen stabil im nach Einkommen obersten Zehntel der Haushalte, während der Anteil im untersten Zehntel von 1995 bis 2017 von 3,9 Prozent auf 2,4 Prozent gesunken ist.
- Im obersten Zehntel stehen 59,1 Prozent der Nettovermögen zur Verfügung. 2002 waren es noch 55,7 Prozent.
- Sozialtransfers minimieren das Armutsrisiko im Vergleich zur Einkommenssituation ohne Transfers. Allerdings ist dieser Effekt deutlich abgeschwächt. 1995 lag er noch bei 39,4 Prozent. Er sank bis 2017 auf 29,2 Prozent.
Auch die Vermögen sind sehr ungleich verteilt. Während die Einkommens- und Vermögenszuwächse in der oberen Hälfte der Haushalte relevant und in den obersten Bevölkerungsschichten sehr ausgeprägt sind, leben die untersten zehn Prozent der Haushalte ohne Vermögen, mit erheblichen Schulden und einem Einkommen, das nicht zum Leben reicht.
Statistisch lässt sich in den letzten Jahren im Durchschnitt eine Zunahme des Wohlstands nachweisen. Sie hat aber keinen Einfluss auf die soziale Mobilität von Haushalten im unteren und untersten Einkommensbereich. Diesen steht kein Vermögen zur Verfügung, sie sind sehr oft überschuldet, und sie schaffen es auch über Jahre nur selten, den Bereich der statistischen Einkommensarmut zu verlassen.
Grundsicherung
Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums
Die Sicherung des sozialen und kulturellen Existenzminimums ist ein vom Bundesverfassungsgericht 2010 (1), 2014 (2) sowie 2019 (3) bestätigtes Grundrecht. Auch im „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ (WSK-Pakt) sowie in der Europäischen Sozialcharta wird festgestellt, dass Armutsbekämpfung mehr ist als sanktionsbewehrte Arbeitsvermittlung.
„Hartz IV“
Die Leistungen der Grundsicherung bestehen aus dem Regelsatz, mit dem laufende Ausgaben getätigt werden sollen, und den Kosten der Unterkunft, die nach regionalen Angemessenheitskriterien gezahlt werden. Hinzu kommen die Arbeitsvermittlung sowie zusätzliche, personenbezogene Leistungen in besonderen Fällen und die Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket. Nach Analyse der Diakonie Deutschland sind diese Leistungen derzeit nicht existenzsichernd, das Existenzminimum wird zu knapp und methodisch fragwürdig ermittelt.
Schon durch die widersprüchliche Ausgestaltung der Angemessenheitsgrenzen bei den Wohnkosten kommt es zu Problemen. So wurden laut BA-Statistik zu Grundsicherung zum Beispiel im Februar 2021 40 Millionen Euro Wohnkosten nicht anerkannt – durchschnittlich 14,8 Euro pro Bedarfsgemeinschaft. 17,3 Prozent der Bedarfsgemeinschaften wohnt oberhalb der Angemessenheitsgrenze. Soweit durch das Jobcenter eine Aufforderung zur Kostensenkung ergangen ist, Leistungsberechtigte diese aber nicht durch einen Umzug in eine günstigere Wohnung erfüllen können, müssen sie die Differenz zur als angemessen definierten Miete aus dem Regelsatz zahlen. Da die Angemessenheitsgrenzen aber anhand des Wohnungsbestandes ermittelt werden und nicht anhand der Wohnungen, die auf dem Wohnungsmarkt tatsächlich anmietbar sind, kommt es immer wieder zu Problemen.
Aber auch die Höhe der Regelsätze selbst ist zu niedrig. Sie wird im Rahmen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes berechnet, das 2020 in neuer Fassung beschlossen wurde. Am zugrundeliegenden Verfahren gab es 2020 breite Kritik der Wohlfahrts- und Sozialverbände sowie der Gewerkschaften. So wurde bemängelt, dass der 2010 vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grundsatz, sachgerecht, realitätsgerecht und transparent zu ermitteln, nicht überzeugend eingelöst wurde.
Bei der Regelsatzermittlung durch das BMAS wurden verschiedene Verbrauchspositionen, die im Rahmen der Einkaufs- und Verbrauchsstichprobe (EVS) in der statistischen Vergleichsgruppe ermittelt wurden, herausgenommen. Durch die Streichungen etwa von Kosten für Haustierfutter, Zimmerpflanzen, Weihnachtsbaum oder Speiseeis wird das Statistikmodell anhand der EVS mit einem Warenkorbmodell vermischt.
Die Diakonie Deutschland schlägt dagegen vor, die statistische Vergleichsgruppe so zu ermitteln, dass zwar ein Abstand zu Haushalten mit mittleren Einkommen besteht, dieser aber nicht zu groß werden darf (sogenannte untere Haltelinie). Die statistischen Ausgaben in den entsprechenden Vergleichsgruppen sollen dann auch ohne weitere Abzüge Grundlage der Regelbedarfsermittlung sein.
Nach den entsprechenden Diakonie-Berechnungen müsste der Regelsatz für alleinlebende Erwachsene bei etwa 600 Euro liegen, für Kinder ist er je nach Altersgruppe um bis zu 90 Euro zu niedrig.
Soziale Mindestsicherung und Grundsicherung: Daten
Die Gesamtdaten zur sozialen Mindestsicherung wurden vom Statistischen Bundesamt zuletzt mit Bezug auf das Jahresende 2019 ermittelt. Demnach bekamen 6,9 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen der sozialen Mindestsicherung: Grundsicherung für Arbeitsuchende, Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder der Kriegsopferfürsorge. Das sind 8,3 Prozent der Bevölkerung. Im Vergleich zum Vorjahr waren diese Zahlen um 0,3 Millionen gesunken und auf dem niedrigsten Stand seit 2006. Der Abstand zwischen Höhe der Regelleistungen und Armutsgrenze wächst allerdings seit Jahren an. Insofern ist dieser Rückgang kein Hinweis auf sinkende Armut, sondern auf striktere Bemessungsgrundlagen. Ein neuerlicher Anstieg erfolgt aktuell durch die Folgen der Pandemie und lässt sich etwa aus den Monatsstatistiken zur Grundsicherung ablesen, ist aber noch nicht systematisch durch das Statistische Bundesamt zusammengefasst worden.
Mit knapp 5,3 Millionen Leistungsberechtigten stand die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch II („Hartz IV“) im Zentrum der Existenzsicherung. Grundsicherung im Alter nahmen 1,1 Millionen Menschen in Anspruch. Die Zahl steigt seit Jahren kontinuierlich. 385.000 Personen erhielten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Die weitere Aufgliederung der Leistungsberechtigten nach dem SGB II in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt, dass zwei Drittel der Leistungsbeziehenden mindestens zwei Jahre und mehr als 40 Prozent länger als vier Jahre im Leistungsbezug verbleiben. Weitere Entwicklungstendenzen lassen sich, auch wenn noch keine aktuelle Gesamtdarstellung für alle Leistungen der sozialen Mindestsicherung vorliegt, an den Monatsberichten zur Grundsicherung nach dem SGB II ablesen. So ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen im Mai 2021 mit 1,064 Millionen im Vergleich zum Vorjahr um knapp 300.000 Menschen gestiegen. Das heißt: Auch, wenn die Zahl der Leistungsbeziehenden insgesamt sinkt, nimmt der Personenkreis, der dauerhaft von Grundsicherungsleistungen lebt, zu. Armut verfestigt sich.
Leistungen für Kinder und Familien
Rund 1,8 Millionen der Leistungsbeziehenden nach dem SGB II sind Kinder. Nach Erhebungen der Bertelsmann-Stiftung leben insgesamt 2,8 Millionen Kinder in Deutschland in Armut. In besonderer Weise betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden. 40 Prozent der Alleinerziehenden leben nach der BA-Statistik mit Leistungen der Grundsicherung, die Hälfte davon hat diese als hauptsächliche Einnahmequelle. Die familienpolitischen Leistungen in Deutschland sind kompliziert und widersprüchlich ausgestaltet sind. Das Existenzminimum für Kinder wird je nach Familiensituation über das Kindergeld, den Kinderfreibetrag, den Kinderzuschlag, ergänzende Pauschalleistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket oder den Regelsatz in der Grundsicherung gewährleistet. Im Ergebnis bekommen nicht die bedürftigsten Kinder die beste finanzielle und infrastrukturelle Förderung, sondern je nach Alter und Familiensituation kann es sogar vorkommen, dass die Netto-Förderung in einkommensstarken Familien höher ist als in von Armut betroffenen Haushalten.
Auswirkungen der Corona-Krise auf die Existenzsicherung
Noch nicht abschließend statistisch bewertet werden können die Auswirkungen der Corona-Krise und der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen. Die Sozialberatungsstellen der Diakonie und anderer Verbände berichten von steigenden Ausgaben durch wegfallende Sonderangebote oder schwerer erreichbare Notfallhilfen. Homeschooling wie Homeoffice sind insbesondere in von Armut betroffenen Haushalten eine starke finanzielle Herausforderung. Schon allein die im Falle einer normalen Beschulung mit monatlich 67,50 Euro finanzierten schulischen Mittagessen fehlen und werden faktisch kaum ausgeglichen. Zwar sehen die geltenden Regelungen in dem Fall die Möglichkeit einer Anlieferung zuhause vor, die aber in der Regel an fehlender Lieferinfrastruktur scheitert. Auch die Leistungen selber sind schwerer erreichbar, etwa, wenn Ämter und Behörden nur noch digital oder über Hotlines erreichbar waren. Deshalb forderte die Diakonie einen Corona-Zuschlag von 100 Euro während geltender Pandemie-Regelungen. Die von der Bundesregierung beschlossenen Zahlungen bleiben dahinter weit zurück und decken nicht einmal den Ausfall der schulischen Mittagessen ab. Zudem müssen die digitalen Zugangsmöglichkeiten für von Armut Betroffene deutlich verbessert werden. Menschen mit Armutserfahrung erleben die Existenzsicherung unter Pandemie-Bedingungen als „sozialen Notstand“.
Bewertung der Diakonie
Die Diakonie will Menschen, die arm sind oder davon bedroht, arm zu werden, unterstützen und ihnen helfen, einen Ausweg aus der Armut zu finden. Eine Verantwortung der gesamten Gesellschaft ist es, die für die Armutsbekämpfung nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Das Steuer- und Abgabensystem muss so gestaltet sein, dass eine aktive Umverteilung im Sinne der Herstellung von Chancen für Benachteiligte und sozial Ausgegrenzte gelingen kann. Die dafür nötigen finanziellen Mittel müssen bereitstehen.
Die Diakonie Deutschland unterstützt in einem breiten Verbändebündnis einen politischen Kurswechsel: „Die Krise bewältigen, Zukunft gestalten, Reichtum umverteilen.“ Gemeinsam fordern die Unterzeichnenden die „Sicherung und Stärkung des Sozialstaates sowie massive Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft.“ Im Papier heißt es weiter: „Wir müssen den vorhandenen Reichtum gerecht verteilen und Gemeinwohl vor Profit stellen.“ Nach Angaben der Initiatoren repräsentieren die beteiligten Verbände über zehn Millionen Menschen.
Ein zentraler Anspruch der Diakonie ist, dass alle Menschen für sich selbst und die eigene Familie sorgen und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Der Zugang zu Bildung ist dafür eine entscheidende Voraussetzung. Kinder und Jugendliche brauchen gute Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten sowie pädagogische Angebote von Anfang an, damit sie nicht in den Kreislauf von Armut und Ausgrenzung geraten. Die Diakonie fordert, die Sozial- und Bildungs-Infrastruktur auszubauen und weitgehend beitragsfrei zu gestalten.
Die Diakonie Deutschland kritisiert die widersprüchliche Ausgestaltung der familienpolitischen Leistungen in Deutschland. Deswegen fordert die Diakonie Deutschland gemeinsam mit anderen Verbänden die Einführung einer Kindergrundsicherung, die die existenzsichernden Leistungen für Kinder und Jugendliche zusammenführt und umso höher ist, je stärker der Bedarf. Weiterer Handlungsbedarf besteht für Kinder mit getrennt lebenden Eltern. Deren Bedarf ist höher als bei Kindern, die gemeinsam mit beiden Elternteilen leben. Viele Ausgaben lassen sich nicht einfach tageweise aufteilen. Deswegen schlägt die Diakonie die Einführung eines Umgangsmehrbedarfes vor, der nach Anwesenheitstagen in den jeweiligen Haushalten gestaffelt ist, insgesamt aber höher als bei Familien, in denen beide Eltern und die Kinder gemeinsam an einem Ort leben.
Die Finanzierung der kommunalen Daseinsfürsorge muss dauerhaft gesichert werden. Weitere Steuersenkungen auf Kosten der sozialen Infrastruktur und der Kommunen, die diese anbieten, darf es nach Ansicht der Diakonie nicht geben. Wo den Kommunen nicht mehr ausreichend Mittel zur Verfügung stehen, um soziale Angebote und Hilfen, aber auch Schwimmbad, Bibliothek, Freizeitmöglichkeiten oder Kinderbetreuung zu gewährleisten, kann auch kein Gutschein weiterhelfen, mit dem der kostenlose Zugang ermöglicht werden soll.
Die Diakonie setzt sich dafür ein, Existenzsicherung neu zu denken. Dazu gehört eine sanktionsfreie Existenzsicherung, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Existenzsicherung sollte nicht nur eine fortdauernde finanzielle Unterstützung sein, sondern die soziale Teilhabe der Menschen verbessern und Perspektiven über den Leistungsbezug hinaus aufzeigen. Dazu gehört auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen mit Respekt begegnet. Neben der Gewährleistung des Existenzminimums sollten flächendeckend Angebote der allgemeinen Sozialberatung und anreizorientierte arbeitsmarktpolitische Angebote stehen.
Auch kirchliche Hilfen müssen so gestaltet sein, dass sie dazu beitragen, Hilfebedürftigkeit zu überwinden und weder abhängig machen noch entmündigen. Darum sind Angebote wie die Tafeln keine Dauerlösung und können den Sozialstaat und eine teilhabeorientierte Sozialpolitik nicht ersetzen.
Text: Diakonie/Michael David, arbeit-soziales@diakonie.de
Redaktion: Diakonie/Sarah Spitzer