Angst und Ohnmacht prägt jetzt den Alltag von Millionen
Seit 42 Jahren herrscht in Afghanistan Bürgerkrieg, dieser Krieg eskalierte in den letzten Jahren erneut und mündete im August 2021 in den Sturz der Regierung durch das Taliban-Regime.
Interview: Diakonie/ Katharina Voss | 15.08.2022
Die Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann zieht ein Jahr nach Veröffentlichung ihrer vielbeachteten Studie „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans“ eine düstere Bilanz:
„Fast ein Jahr ist es her, dass die letzten Regionen Afghanistans von den Taliban eingenommen wurden. So sehr dieser Tag von Millionen Afghaninnen und Afghanen gefürchtet wurde, waren auch viele Hoffnungen mit dieser endgültigen Machtübernahme verbunden. Es gab die Hoffnung, dass die 'Taliban 2.0' mehr um ihre Legitimität bemüht und daher offener für die Forderungen der Bevölkerung wären und die ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes repräsentieren würden; dass sie größeres Interesse an internationaler Anerkennung hätten und daher eher bereit wären, internationale Forderungen und internationales Recht zu berücksichtigen; und dass sie sich angesichts der sich seit Jahren verschärfenden humanitären Katastrophe mehr um das schiere Überleben der Bevölkerung sorgen würden. Diese Hoffnungen haben sich zerschlagen und das Leben in Afghanistan hat sich grundlegend zum Schlechteren verändert. Die Erfahrungen der Abgeschobenen in den Jahren vor dem Zusammenbruch der Regierung im August 2021, die in meiner Studie beschrieben werden, stellen in vielerlei Hinsicht einen Vorläufer der Erfahrungen dar, die das Land seit dem Sturz der Regierung macht,“ stellt Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann klar.
Im Rahmen einer mehrjährigen Forschung ist es Friederike Stahlmann gelungen, Erfahrungen von 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen zu dokumentieren. Die Mehrheit dieser Abgeschobenen erfuhr Gewalt gegen sich oder ihre Angehörigen, weil sie nach Europa geflohen sind, dort gelebt haben oder abgeschoben wurden.
Die Studie wurde im Juni 2021 veröffentlicht, zwei Monate bevor die Taliban ganz Afghanistan eingenommen haben. Am 03. August 2021 war zuletzt ein Abschiebungsflieger nach Afghanistan aus Deutschland vorgesehen. Dieser Flieger konnte schließlich aufgrund eines Anschlags in Kabul, bei dem 13 Menschen ums Leben kamen, nicht starten und wurde abgesagt. Mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban am 15. August 2021 wurden Abschiebungen nach Afghanistan aus Deutschland vorerst ausgesetzt.
Ein Jahr später veröffentlichen die Herausgeber die Studie auch auf Englisch. Die deutsche und die englische Fassung sind mit einem ausführlichen Vorwort der Autorin zur aktuellen Lage in Afghanistan versehen.
Mehr zu den Hintergründen und den Erfahrungen der Autorin im Interview, Juni 2021:
Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, diese Studie über aus Deutschland abgeschobene Afghanen zu machen?
Friederike Stahlmann: Wir wissen viel über die Risiken, in Afghanistan zu leben. Wenn man aber selbst nie mit Krieg, mit Verfolgung oder Not zu tun hatte, ist es schwer, diesen Alltag nachzuvollziehen. Meine Hoffnung ist, dass ich mit meiner Arbeit ein klein wenig zu dieser Vermittlung beitragen kann. Die Frage, was aus Abgeschobenen wird, ist dabei besonders, weil die Betroffenen selbst während ihrer Zeit in Deutschland noch nicht davon berichten können, wie es ist, zurückzukehren. Manche kennen Afghanistan ja noch nicht einmal, weil sie zum Beispiel als Flüchtlinge in Iran oder Pakistan aufgewachsen sind. Die anderen können oft nicht wirklich beurteilen, wie es sich auf ihr Leben dort auswirken wird, dass sie in Europa waren. Gleichzeitig bestimmt die Angst vor einer Abschiebung den Alltag von den Vielen in Deutschland und Europa, die keinen Schutz erhalten haben. Umso wichtiger fand ich es, die Erfahrungen der Betroffenen zu dokumentieren.
Sie schreiben, dass Sie versuchen, asylrechtliche Interessen an diesem Thema zu berücksichtigen. Was bedeutet das?
Stahlmann: Die asylrechtliche Beurteilung von Risiken bei Rückkehr folgt eigenen und speziellen Regeln. Und das schafft oft eine besondere Lücke in der Dokumentation. Denn wenn ich zum Beispiel nur das dokumentiere, was mir Abgeschobene von sich aus über Gewalterfahrungen berichten, bleiben viele Fragen unbeantwortet, die Richterinnen und Richter mir im Laufe der letzten Jahre zu Risiken von Gewalt gestellt haben. Die Studie war ein Versuch, diese Fragen von Seiten der Justiz zumindest so gut wie möglich zu berücksichtigen. Das hat natürlich Grenzen, denn diese Fragen und Kriterien sind oft nicht einheitlich und manches scheitert einfach daran, dass vieles in der Praxis nicht so dokumentierbar ist, wie Gerichte sich das wünschen würden. Aber das ist eben auch in der Sache begründet. Ich kann schlicht kein Interview mit den Taliban führen, warum sie eine bestimmte Person umgebracht haben. Oft lässt sich schon der Tod der Betroffenen nicht belegen. Das gleiche gilt zum Beispiel für Verelendung von Abgeschobenen.
Was haben Sie denn herausgefunden?
Stahlmann: Vieles von dem, was ich gefunden habe, ist nicht überraschend, sondern bestätigt bisherige Analysen – ob das Erwartungen von Familien an erwachsene Männer sind, als Versorger zu fungieren; dass es wohlhabende und wohlwollende soziale Netzwerke braucht, um Zugang zu Arbeit oder medizinischer Versorgung oder ein bisschen Schutz zu bekommen; das hohe Maß an Gewalt, das den Alltag prägt; aber auch übliche Gründe für Verfolgung. Auch dass die Taliban nach Europa Geflüchtete als Gegner im Krieg betrachten und als Kollaborateure und Spione verfolgen, ist ein Muster, das wir von vielen anderen kennen, die in Afghanistan mit westlichen Ausländern zu tun haben. Besonders ist, dass die Gewalt, die Abgeschobene erleben, oft auf Gerüchten und Unterstellungen beruht. Zum Beispiel, dass sie ihr Land verraten hätten, indem sie geflüchtet sind, dass sie Schutz in Europa selbst verspielt hätten, weil sie Straftäter oder Terroristen seien, dass sie wohlhabend seien, aber auch, dass sie ihre Religion verraten hätten, während sie in Europa waren. All das sorgt nicht nur für ein noch größeres Risiko von Gewalt und Verelendung. Es macht sie auch sehr isoliert und einsam. Sie haben nicht die Chance, gemeinsam Opfer zu betrauern oder im Land öffentlich für Anerkennung zu kämpfen. Statt Solidarität und Verständnis erleben sie Vorverurteilung und sozialen Ausschluss.
Haben Abgeschobene denn eine Chance, in Afghanistan Fuß zu fassen?
Stahlmann: Davon ist durch die Kombination von dem hohen Maß an Gewalt und der unglaublichen Not im Land nicht auszugehen. Es ist im internationalen Vergleich das gefährlichste Land der Welt. UNICEF rechnet damit, dass dieses Jahr jedes zweite Kind ohne Behandlung an Unterernährung sterben würde. Ich hoffe, dass niemand davon ausgeht, dass deren Eltern nicht alles dafür tun, ihre Kinder zu versorgen. Aber sie schaffen es schlicht nicht mehr und haben es auch nicht in der Hand, etwas an den Bedingungen zu ändern, den Krieg zu beenden, Verfolger zu stoppen oder skrupellose Machthaber zu entwaffnen. Abgeschobene sind dabei von einem ganz spezifischen Ausschluss und damit umso mehr von Perspektivlosigkeit betroffen. Selbst wenn private Unterstützerinnen und Unterstützer den Betroffenen Geld schicken, damit sie Verstecke bezahlen können, bietet das ja keine Perspektive. Viele von denen, die erstmal im Land bleiben, bereuen daher, dass sie nicht sofort wieder geflohen sind. Selbst manche von denjenigen, die gute Chancen haben, mit einem Visum nach Deutschland zurück zu kommen, entscheiden sich wegen der akuten Gefahren für eine erneute lebensgefährliche Flucht.
Aber es gibt Ausnahmen?
Stahlmann: Sie werden von wissenschaftlicher Seite nicht hören, dass es keine Ausnahmen geben kann. Ausnahmen lassen sich immer und überall formulieren. Das heißt in dem Fall nicht, dass irgendjemand in Afghanistan wirklich sicher wäre. Es herrscht Bürgerkrieg und die Wahrscheinlichkeit, dass die Gewalt und damit auch die Not mit dem Abzug der internationalen Truppen weiter eskalieren, ist leider sehr hoch. Einer der von mir dokumentierten Betroffenen zum Beispiel hat zwar ein existenzsicherndes Einkommen gefunden, weil er wieder bei der US-Armee angeheuert hat. Er wurde schon vor seiner Flucht nach Europa verfolgt, weil er für die USA gearbeitet hat, aber es war eben noch am sichersten, in der Kaserne zu sein. Aber das sorgt nicht für seine Sicherheit. Was jetzt mit ihm ist, wo die US-Truppen abziehen, weiß ich nicht. Der Kontakt ist abgebrochen. Grundsätzlich schützen Reichtum und Macht vor einer Vielzahl von Gefahren. Aber auch mächtige Menschen sind von spezifischen Gefahren bedroht. Man könnte aber annehmen, dass wenn der Sohn eines hochrangigen Politikers abgeschoben würde, der die Unterstützung seines Vaters hat, er einfacher außer Landes käme, wenn er in akuter Gefahr ist. Solche Beispiele lassen sich konstruieren, aber das sehe ich nicht als meine Aufgabe. Mir geht es darum zu zeigen, welche Erfahrungen die Betroffenen machen, wie bestimmte Phänomene erklärbar sind, wo es Muster gibt.
Sie beschreiben große Verzweiflung unter den Abgeschobenen, mit denen Sie in Kontakt waren. Wie war es für Sie, diese Interviews zu führen?
Stahlmann: Zeugin von so viel Angst und Ohnmacht zu sein, macht die eigenen Privilegien schmerzhaft bewusst. Ich sitze ja sicher in meinem Zimmer in Deutschland oder konnte jederzeit aus Kabul abreisen. Dass die Betroffenen bereit waren, mir hoch persönliche, oft intime, mitunter gefährliche Informationen anzuvertrauen, obwohl sie wussten, dass ich ihnen nichts anbieten kann, was ihnen auch nur ein bisschen praktische Hilfe bieten würde, hat mich tief berührt. Was mich aber noch weit mehr beeindruckt hat, ist deren Wille, die Hoffnung auf ein ziviles, friedliches Leben nicht aufzugeben. Sie könnten auch um ihr Leben kämpfen, indem sie Waffen kaufen, indem sie sich Banden oder Milizen anschließen, und sie wären vermutlich besser geschützt, als wenn sie sich der Gewalt einer erneuten Flucht aussetzen. Sie könnten sich mit Heroin betäuben und aufgeben. Und zwei aus Deutschland Abgeschobene haben sich ja direkt nach der Ankunft das Leben genommen. Aber so viele tun das nicht, und sie tun nicht nur alles dafür, zu überleben, sondern wollen um jeden Preis eine friedliche Zukunft. Und das ist nicht auf Abgeschobene beschränkt. Dass Eltern ihre Kinder trotz der Gefahren weiter in Schulen schicken, dass so viele Menschen Verfolgung in Kauf nehmen, um ihre Meinung zu sagen, dass Menschen in Afghanistan immer weiter wählen gehen oder dass ich als Ausländerin mit so großer Herzlichkeit, so viel Humor und Fürsorge aufgenommen werde, obwohl ich nichts als ein zusätzliches Risiko mitbringe, lässt mich immer wieder sprachlos zurück. Es ist klar, dass sehr viele an der Gewalt zerbrechen. Und dieser Überlebenskampf verlangt einen hohen Preis, viele Opfer und hinterlässt Narben, bei einzelnen und in der Gesellschaft. Aber dass so viele dennoch der Gewalt trotzen und angesichts dieser vernichtenden Umstände nicht die Hoffnung aufgeben, sondern jeden Morgen aufstehen, um nach neuen Wegen zu suchen, um sich und ihre Familien irgendwie zu versorgen, macht sehr, sehr demütig.
Nachfrage, 01.08.2022: Frau Stahlmann, ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban, die Sie in Ihrer vielbeachteten Studie von Juni 2021 bereits vorausgesehen haben, beschreiben Sie nun die Lage in vielerlei Hinsicht als hoffnungslos und grundlegend zum Schlechten verändert. Was bedeutet das für afghanische Geflüchtete in Europa?
Stahlmann: Viele der Geflüchteten leiden nun vermehrt unter immenser Ohnmacht. Ohnmacht mitansehen zu müssen, dass ihre Angehörigen oft auch aufgrund ihrer Flucht in zusätzliche Gefahr geraten. Ohnmacht aber auch damit, den Erwartungen der Verwandten und Freunde vor Ort noch weniger gerecht werden zu können. Nicht nur hat die Not in einem Maße zugenommen, das nicht mehr durch individuell leistbare Geldsendungen aufzufangen ist. Auch glauben viele AfghanInnen vor Ort, dass ihre Verwandten in Europa sie in Aufnahmeprogrammen registrieren könnten. Dass das in der Regel illusorisch und in vielerlei Hinsicht eine Frage des Glücks ist, ist oft nicht vermittelbar und übt mitunter einen unerträglichen Druck auf die Geflüchteten aus. Die eigene aufenthaltsrechtliche Unsicherheit, mit der viele weiterhin leben müssen, kommt da noch erschwerend hinzu.
Interview: Diakonie/ Katharina Voss