Wissen kompakt: Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere
Wie werden Menschen ohne Papiere in Deutschland medizinisch versorgt? Welche Gesundheitsleistungen stehen ihnen zu? Das "Wissen kompakt" bietet dazu Fakten und Hintergründe.
06.02.2024
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Was bedeutet „Menschen ohne Papiere“?
Der Begriff „Menschen ohne Papiere“ beschreibt Personen, die sich ohne legalen asyl- oder ausländerrechtlichen Aufenthaltstitel, ohne Duldung und ohne behördliche Erfassung in Deutschland aufhalten. Menschen ohne Papiere verfügen in Deutschland über keine Arbeitserlaubnis und keine Krankenversicherung. Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen ohne geregelten Aufenthaltstitel in Deutschland leben: Personen können mit einem Visum einreisen und nach Ablauf des Visums nicht wieder ausreisen. Ein Asylantrag kann abgelehnt worden und der Ausreisetermin verstrichen sein. Auch eine Scheidung kann ein Grund für den Verlust des Aufenthaltstitels sein. Manche Menschen sind auch von Arbeitsausbeutung betroffen. Viele Menschen ohne Papiere leben seit Jahren in Deutschland, arbeiten hier und ziehen Kinder auf. Achtung: Menschen ohne Papiere sind nicht gleichzusetzen mit geflüchteten Menschen. Andere Begriffe für „Menschen ohne Papiere“ sind: „Sans-Papiers“, „Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus“ oder "Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität".
Rechtlicher Hintergrund
Der gesetzliche Rahmen für die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Papiere ist im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt: als „vollziehbar Ausreisepflichtige“ haben auch Menschen ohne Papiere einen Anspruch auf eine eingeschränkte medizinische Versorgung. Die Leistungsansprüche nach dem AsylbLG beschränken sich jedoch im Wesentlichen auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände, auf Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt und auf den Erhalt amtlich empfohlener Schutzimpfungen und liegen damit deutlich unter dem Leistungsanspruch regulär gesetzlich krankenversicherter Personen.
Ambulante Versorgung – de facto nicht möglich
Um gesundheitliche Versorgung in Anspruch nehmen zu können, müssen Menschen ohne Papiere zuvor beim zuständigen Sozialamt einen Krankenschein beantragen. Das Sozialamt ist jedoch aufgrund der in Deutschland geltenden Übermittlungspflichten (§ 87 Abs. 2 AufenthG) gesetzlich verpflichtet, Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus an die Ausländerbehörde zu melden. In der Praxis können Menschen ohne Papiere deshalb unser Gesundheitssystem nicht nutzen: Wenden sie sich an das Sozialamt, droht ihnen die Abschiebung. So können Menschen ohne Papiere ihr Recht auf gesundheitliche Versorgung de facto nicht in Anspruch nehmen.
Notfallhilfe im Krankenhaus – der „Nothelferparagraph“ funktioniert nicht
Ärzt:innen und anderes medizinisches Personal haben im Notfall die Pflicht, medizinische Hilfe zu leisten. Der „Nothelferparagraph“ (§ 6a AsylbLG) soll ermöglichen, dass Krankenhäuser die Kosten für im Notfall erfolgte Leistungen rückwirkend vom Sozialamt erstattet bekommen können. Grundsätzlich muss das Sozialamt hierbei jedoch stets prüfen, ob eine materielle Hilfebedürftigkeit vorliegt und Patient:innen für die Behandlungskosten nicht selbst aufkommen können. An der Bedürftigkeitsprüfung scheitert in der Regel die rückwirkende Finanzierung, da Menschen ohne Papiere die geforderten Dokumente und Nachweise wie Kontoauszüge, Mietverträge oder Passkopien zumeist nicht erbringen können. Die geltenden Regelungen sind somit nicht praktikabel: Eine Kostenerstattung durch das Sozialamt im Notfall greift nur in einem Bruchteil der Fälle. Dies hat Auswirkungen auf die Möglichkeit und Bereitschaft der Krankenhäuser, die Versorgung in angemessenem Umfang sicherzustellen. Im Notfall gilt zudem ein „verlängerter Geheimnisschutz“. Danach unterliegen nicht nur Ärzt:innen und medizinisches Personal der Schweigepflicht, sondern auch die Verwaltungsmitarbeitenden im Krankenhaus und die Angestellten der Sozialämter. Sie dürfen keine Informationen über die Person an die Ausländerbehörde oder Polizei melden. Der verlängerte Geheimnisschutz ist jedoch nach wie vor in den Sozialämtern nicht ausreichend bekannt. Es ist deshalb in der Praxis unsicher, ob nicht doch eine Weitergabe der personenbezogenen Daten erfolgt.
Parallelstrukturen zum regulären Gesundheitssystem
Die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere erfolgt daher häufig durch zivilgesellschaftliche Akteur:innen in Parallelstrukturen zum regulären Gesundheitssystem: in humanitären Sprechstunden oder in Anlaufstellen, die informell an lokale Netzwerke engagierter Praxen weitervermitteln, die bereit sind, unentgeltlich zu behandeln. Eine kompensatorische gesundheitliche Versorgung in Parallelstrukturen, die meist auf Spendenbasis und durch ehrenamtliches Engagement getragen werden, birgt vielfältige Probleme und ist keine Alternative für eine strukturelle und nachhaltige Lösung.
Anonyme Behandlungsschein- und Clearingstellen
Seit einigen Jahren sind in einigen Bundesländern Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung etabliert worden. In diesen Anlaufstellen werden Menschen ohne oder mit unklarem Krankenversicherungsschutz dabei unterstützt, bestehende Ansprüche hinsichtlich eines Kostenträgers zu realisieren. Je nach Konzept ermöglichen Clearingstellen neben der Beratung auch eine Vermittlung in medizinische Behandlung und eine Finanzierung der Behandlungskosten. Die Ausgestaltung, Finanzierung, Ausstattung und Handlungsoptionen der jeweiligen Stellen unterscheiden sich zum Teil stark.
Empfehlungen zur Ausgestaltung von Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherungsschutz hat die BAG Gesundheit/Illegalität gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Anonyme Behandlungsschein- und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherungsschutz (BACK) erarbeitet.
Historie
Seit dem Jahr 1990 sind alle öffentlichen Stellen verpflichtet, Namen und Adresse einer Person ohne geregelten Aufenthaltsstatus an die Ausländerbehörde oder direkt an die Polizei weiterzugeben. Begründet wurde die Einführung dieser Regelung damit, dass der Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein Umstand von so wesentlicher Bedeutung sei, dass die Ausländerbehörde in jedem Einzelfall davon Kenntnis erhalten müsse. Kirchen, Gewerkschaften, NGOs und Wohlfahrtverbände übten von Beginn an deutliche Kritik an den Übermittlungspflichten.
Im Jahr 2011 hat die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit eine Gesetzesänderung beschlossen und Schulen, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen von der Übermittlungspflicht nach § 87 Aufenthaltsgesetz ausgenommen. Die Übermittlungspflichten weiterer öffentlicher Stellen blieben jedoch bestehen, obgleich Internationale Menschenrechtsausschüsse Deutschland mehrfach aufforderten, die Übermittlungspflichten abzuschaffen.
In der Kampagne „GleichBeHandeln“ forderten über 80 Organisationen die Einschränkung der Übermittlungspflichten. Mehr als 26.000 Menschen versammelten sich hinter dieser Forderung und unterschrieben eine Petition für das Grundrecht auf medizinische Versorgung. In keinem anderen europäischen Land sind die für die Gesundheitsversorgung zuständigen staatlichen Stellen verpflichtet, Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus an die Ordnungsbehörden zu melden.
Ein erster Erfolg der zivilgesellschaftlichen Anstrengungen wurde im Jahr 2021 erzielt: Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wurde vereinbart: „Die Meldepflichten von Menschen ohne Papiere wollen wir überarbeiten, damit Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen.“
Bewertung der Diakonie Deutschland
Jeder Mensch in Deutschland muss gesundheitlich gut versorgt werden – unabhängig vom Aufenthaltsstatus.
Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung zugesichert, die Übermittlungspflichten zu überarbeiten, so dass Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus nicht länger davon abgehalten werden, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Schon im Jahr 2011 wurden Schulen und Kitas von den Übermittlungspflichten ausgenommen. Jetzt gilt es, dieses Vorhaben zeitnah umzusetzen.
Darüber hinaus gibt es weitere wichtige Ansatzpunkte, um die bestehenden Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere entscheidend zu reduzieren:
Es muss sichergestellt sein, dass Krankenhäuser die Kosten einer Notfallbehandlung erstattet bekommen. Damit der «Nothelferparagraph» greifen kann, muss die Beweislast über die Hilfebedürftigkeit von Patient:innen von den Krankenhäusern auf die Sozialämter übergehen. Zudem sollte eine Übertragung der Leistungsansprüche zur Erstattung der Krankenhauskosten von der hilfebedürftigen Person auf das Krankenhaus ermöglicht werden.
Clearingstellen, die Menschen ohne Krankenversicherungsschutz dabei unterstützen, Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung zu erhalten, sollten flächendeckend und dauerhaft eingerichtet werden und die Möglichkeit haben, anonyme Behandlungsscheine auszustellen.
Im Rahmen der Weiterentwicklung des ÖGD sollten flächendeckend Angebote der Schwangerenvorsorge, der Wochenbettbetreuung und der kinderärztlichen Versorgung für Menschen, die keinen Zugang zur Regelversorgung haben, aufgebaut werden.
Grundsätzlich sind die Einschränkungen des Leistungsanspruchs im Asylbewerberleistungsgesetz nicht zu rechtfertigen. Sie widersprechen der vom Bundesverfassungsgericht benannten Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter auf Leben und körperliche Unversehrtheit eines jeden Menschen (Art. 1 I, Art. 2 II 1 GG) zu stellen. Laut Bundesverfassungsgericht können geringere Leistungen nur durch einen geringeren Bedarf rechtfertigt werden. Es ist jedoch nicht begründbar, warum Menschen ohne Papiere per se nicht die gleiche gesundheitliche Versorgung benötigen sollten wie andere Menschen. Statt eines Sonderrechts mit eingeschränkten Ansprüchen sollten alle Personengruppen, die aktuell unter das AsylbLG fallen, Anspruch auf medizinische Leistungen haben, die dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen.
Hintergrund und Publikationen der BAG Gesundheit/Illegalität
Die Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität ist ein Zusammenschluss von über hundert Organisationen und Einzelpersonen aus der medizinischen Praxis, aus dem Gesundheitswesen, aus Kirchen, Verbänden, Wissenschaft und Kommunen. Die Bundesarbeitsgruppe setzt sich für einen ungehinderten Zugang zur gesundheitlichen Versorgung unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein. Die Koordination der Bundesarbeitsgruppe liegt derzeit bei der Diakonie Deutschland.