Demokratie und Sozialstaat mit aller Kraft verteidigen
"Aufklären. Differenzieren. Und nicht müde werden, den Vorurteilen der populistischen Vereinfacher:innen mit Daten und Fakten zu begegnen."
Ein Bilanzinterview zum Abschied
Im Oktober 2011 wurde Maria Loheide Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, im Dezember 2024 geht sie in den Ruhestand. In diesen 13 Jahren hat sie sozialpolitische Gesetzesvorhaben von vier Bundesregierungen kritisch und konstruktiv begleitet. Vieles ist gelungen, doch das soziale Klima, sagt sie, sei rauer geworden.
Frau Loheide, Sie haben 13 Jahre die sozialpolitischen Positionierungen der Diakonie Deutschland geprägt: Was zeichnet eine evangelische Sozialpolitik aus?
Maria Loheide: Es sind die christlichen Werte, eine evangelische Haltung, auf deren Grundlage wir Sozialpolitik machen. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass wir mit den Menschen im Gespräch bleiben und dafür sorgen, dass sie für sich selbst sprechen und ihre Interessen vertreten können.
Jede Person definiert ein Amt anders: Wo haben Sie Ihren Gestaltungsauftrag gesehen?
Loheide: Für mich war politische Lobbyarbeit die zentrale Gestaltungsaufgabe. Sowohl im Dienst der Menschen in ihren unterschiedlichen Notlagen und Unterstützungsbedarfen als auch der diakonischen Träger mit ihren Mitarbeitenden, die sichere Finanzierung und gesetzliche Rahmenbedingungen brauchen, um Menschen in Not gut begleiten zu können. Auf diesen beiden Ebenen den Kontakt zu halten und regelmäßig ins Gespräch zu gehen, ist entscheidend. Beides braucht eine Stimme in der Bundespolitik: die konkrete Not eines Wohnungslosen und ebenso die großen Herausforderungen, vor denen die diakonischen Unternehmen stehen.
Oft erscheint es so, als bliebe die »Riesin Diakonie« mit Ihren knapp 630.000 Mitarbeitenden in Deutschland, hinter ihren Möglichkeiten Druck aufzubauen, zurück. Warum?
Loheide: Ein Grund ist sicher, dass ökonomische Schwergewichte wie die Auto- oder Pharmaindustrie viel mehr in ihre Lobbyarbeit investieren können. Ein anderer, dass – obwohl die Sozialwirtschaft insgesamt eine bedeutende Arbeitgeberin ist – unsere Themen in ihrer Dringlichkeit erst erkannt werden, wenn Notfälle wie z. B. die Corona Pandemie eintreten und die Versorgungslücken im System erlebbar werden. Wer keinen Kita-Platz findet, merkt: Es gibt ein sozialpolitisches Problem. Manchmal denke ich: Hätten die Bundesminister:innen persönlich mehr Verantwortung für pflegebedürftige Angehörige, würden sie erleben und begreifen, wie groß die Not ist.
Wenn Sie zurückschauen: Wo ist es gelungen, Positionen der Diakonie wirksam in die politischen Prozesse einzuspeisen?
Loheide: Ein Beispiel ist die Umsetzung der generalistischen Pflegeausbildung. Oder, dass das Recht auf sozialräumliche Unterstützung von Menschen mit Behinderung im Bundesteilhabegesetz aufgenommen wurde. Das war mir wichtig. Oder der Umgang mit Langzeitarbeitslosigkeit: Hinter dem § 16i SBG II steckt das Diakonie-Konzept des Passiv-Aktiv-Transfers. Das ist ein scheinbar unspektakulärer Erfolg, der aber große Auswirkungen hat: Mehrere zehntausend Menschen wurden über dieses Begleitprogramm bislang in Arbeit vermittelt. Und: Im Koalitionsvertrag der Ampel finden sich erstaunlich viele unserer Positionen wieder. Was davon umgesetzt wurde, steht leider auf einem anderen Blatt.
Wie hat sich das sozialpolitische Klima in Deutschland verändert?
Loheide: Der Rechtsruck macht mir große Sorgen. Er gefährdet unsere vielfältige Gesellschaft. Auch die populistischen Debatten um das Bürgergeld oder die Kindergrundsicherung verzerren das Bild der Wirklichkeit. Die berufstätige alleinerziehende Frau, die ihr Gehalt mit Bürgergeld aufstocken muss, ist keine Totalverweigerin. Hier werden Menschen völlig undifferenziert in einen Topf geschmissen und verunglimpft, viele Menschen, die auf Existenzsicherung dringend angewiesen sind. Das gefährdet den Sozialstaat und stellt seine Existenzberechtigung in Frage. Dabei wird die Diskrepanz zwischen arm und reich immer größer.
Was ist zu tun?
Loheide: Wir müssen die Demokratie und den Sozialstaat verteidigen – mit allen Möglichkeiten, die wir haben. Das heißt: Aufklären. Differenzieren. Und nicht müde werden, den Vorurteilen der populistischen Vereinfacher:innen mit stimmigen Daten und Fakten zu begegnen.
Autorin: Diakonie/Evamaria Bohle
Zur Person
Maria Loheide, geboren 1958, wurde 2011 in den Vorstand des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt und ist seit 2012 Vorständin des EWDE und für Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Hier verantwortet sie die sozialpolitische Lobbyarbeit auf Bundesebene. Dazu vertritt sie die Diakonie in kooperierenden Netzwerkorganisationen. Loheide ist u. a. Vizepräsidentin des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Vorsitzende der Sozialkommission I der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und war Vice Chairperson im europäischen diakonischen Verbund Eurodiaconia. Ihre Amtszeit endet mit dem Jahr 2024.
Das vollständige Interview finden Sie im Jahresbericht der Diakonie Deutschland, Seite 30-33.