Projekt: Beteiligung und Selbstvertretung von Menschen mit Armutserfahrung fördern
Menschen mit Armutserfahrung wollen ihre sozialen und politischen Rechte selbst vertreten und durchsetzen – einzeln und gemeinsam. Die Diakonie Deutschland will sie mit dem Projekt „Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung“ dabei unterstützen.
08.06.2022
Hintergrund
Von Armut Betroffene brauchen Zugangswege in Bereiche, die ihnen bisher verschlossen sind. Diesen Raum für Menschen mit Armutserfahrung zu schaffen, ist das Ziel des Projektes „Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung“. Das ist auch ein wesentliches Ziel der sozialpolitischen Arbeit der Diakonie Deutschland. Eine konsequente Beteiligungskultur wurde in den strategischen Zielen der Diakonie Deutschland 2021-2025 festgehalten.
Erhöhter Druck auf Menschen mit Armutserfahrung
Viele Entwicklungen und Krisen verschärfen die Lage von Menschen in Armut:
- Die Inflation, die im Mai 2022 rund 7,9 Prozent in Deutschland beträgt. Ein Höchststand seit vier Jahrzehnten. Steigende Lebensmittelpreise und eine sich beschleunigende Inflation treffen die Ärmsten am härtesten. Menschen in der Grundsicherung stehen weniger als fünf Euro am Tag für Nahrungsmittel und Getränke zur Verfügung. Die Regelsätze sind zu niedrig.
- Energiekosten, steigende Gas-, Strom- und Spritpreise werden zum Problem. Bereits jetzt geben die ärmsten Haushalte in Deutschland 9,5 Prozent ihrer Einkünfte für Energiekosten aus und damit anteilig doppelt so viel wie die einkommensstärksten Haushalte.
- Schon die Corona-Pandemie verschärfte die soziale Lage für viele Menschen gravierend. Menschen mit Armutserfahrung erlebten, dass sie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden.
- Die Digitalisierung nimmt in allen Bereichen zu. Oft sind Menschen mit Armutserfahrung bei der Gestaltung digitaler Prozesse nicht hinreichend mitgedacht. Es fehlen Ressourcen und Zugänge. Ohne guten Online-Zugang und ohne Kreditkarte werden Einkaufen, Kommunizieren oder auch Teilhabe an Kultur immer schwieriger. Hürden für Beteiligung steigen damit.
- Die Lebenslage obdachloser Menschen hat sich in den vergangenen Jahren weiter verschlechtert. Im Vergleich zu 2018 stieg der Anteil der Betroffenen, die in einer "schlechten oder sehr schlechten Lebenslage" sind in Deutschland, um 2,6 Prozent.
- Durch den Angriffskrieg in der Ukraine steigt die Zahl der Geflüchteten und Schutzsuchenden, gleichzeitig halten die Fluchtbewegungen aus anderen Krisenregionen an. Konkurrenzen um Ressourcen, wie bezahlbaren Wohnraum oder Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen von Geflüchteten sind zu befürchten.
Darum ist es jetzt noch wichtiger, dass Menschen mit Armutserfahrung gehört werden. Die Diakonie lädt Menschen mit Armutserfahrung dazu ein, ihre Erfahrungen direkt laut und deutlich in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Diakonie Deutschland möchte mit diesem Projekt einen Anstoß geben zu einer Diskussion darüber, was nötig ist, um eine Verschärfung der sozialen Lage zu verhindern. Soziale Härten müssen aufgebrochen werden. Raum für Menschen mit Armutserfahrung wird geschaffen – damit aktive Beteiligung und Mitreden möglich werden.
Projektziele
Ziel 1: Selbstorganisation stärken mit der „AG Beteiligung“
Die Diakonie startet mit einem umfassenden Beteiligungsprojekt, in dem Menschen mit Armutserfahrung als Expert:innen in eigener Sache Unterstützung und Möglichkeiten erhalten, ihre Interessen selbst zu vertreten. Dazu unterstützt die Diakonie eine wachsende Gruppe von Menschen in der „AG Beteiligung“. Nicht die Diakonie will für sogenannte Betroffene sprechen, sondern Menschen mit Armutserfahrung sprechen für sich selbst. Die Selbstorganisation und Vernetzung von Menschen mit Armutserfahrung soll im Projekt bundesweit gefördert werden.
Die Diakonie stellt Ressourcen zur Verfügung, dass in Armut Lebende ihre Interessenvertretung selbstbestimmt gestalten können: Fahrtkosten, Technik, Tagungskosten, organisatorische Unterstützung, Hilfe beim Zugang zu Medien und politischen Austauschmöglichkeiten. Die Beteiligten entscheiden selbst über die Inhalte und Arbeitsschritte. Das Projekt ist im Sommer 2021 gestartet und hat eine Laufzeit von zwei Jahren.
Ziel 2: Eine konsequente Beteiligungskultur entwickeln
In den armuts- und sozialpolitischen Arbeitsfeldern und in der Lobbyarbeit der Diakonie soll eine konsequente Beteiligungskultur entwickelt werden. Wo können Menschen mit Armutserfahrung direkt beteiligt werden, wo sind sie in die Positionsfindung und die Programmentwicklung eingebunden, wie können sie in den Strukturen eines Wohlfahrtsverbandes mitwirken?
Beteiligung als Querschnittsaufgabe
Daneben werden in den Strukturen der Diakonie neue Vernetzungen aufgebaut, Möglichkeiten der Beteiligung für Menschen mit Armutserfahrung in den Arbeitsfeldern erschlossen, Leuchttürme in den Landesverbänden identifiziert und in eine Zusammenarbeit einbezogen. Beteiligung soll als Querschnittsaufgabe verstanden werden und damit eine Form des „Beteiligungs-Mainstreamings“ entstehen, die künftig die Sichtweisen und Bedürfnisse von Menschen mit Armutserfahrung stärker zum Ausgangspunkt der Programmentwicklung und der Lobbyarbeit werden lassen.
Stimmen von Menschen mit Armutserfahrung
„Das Schlimmste daran, arm zu sein, sind Ausgrenzung und Stigmatisierung“
Seit seiner Kindheit ist Jens Schubert mit Armut konfrontiert. Er macht sich stark für ein menschenwürdiges Existenzminimum und die Belange psychisch kranker und behinderter Menschen.
„Ich mag zwar arm im Geldbeutel sein, aber ich bin reich an Wissen und Erfahrungen! – das ist mein Motto. Von dem Beteiligungsprojekt habe ich im Radio gehört und Kontakt aufgenommen. Ich hatte mich schon alleine viel mit Sozialrecht und -forschung auseinandergesetzt. Und mit den Widersprüchen zwischen Theorie, also dem Gesetzgeber, und Praxis. Man braucht aber jemanden wie die Diakonie im Rücken, um solche Themen voranzutreiben. Denn Menschen mit Armutserfahrung haben keine Lobby.
Seit ich denken kann, muss ich mit Armut klarkommen, Geld war schon im Elternhaus knapp. Als Kind und Jugendlicher habe ich Gewalt erfahren, beruflich ist es nie richtig gelaufen. Seit meiner Kindheit bin ich psychisch krank, dadurch schwerbehindert – und doppelt stigmatisiert. Deshalb mache ich mich jetzt in der AG besonders für die Belange psychisch kranker und behinderter Menschen stark. Und für ein menschenwürdiges Existenzminimum – denn der Regelsatz ist in allen Bereichen knapp. Mein Hund und ein Pachtgarten sind mir sehr wichtig, beides hätte ich eigentlich längst abschaffen müssen, weil sie nicht ´existenznotwendig` sind. Das Geld für Futter knapse ich irgendwie ab. Ohnehin habe ich festgestellt: Teilhabe gibt es eigentlich nur dann, wenn man sie selbst finanziert. Im Regelsatz ist das nicht wirklich vorgesehen.
Das Schlimmste daran, arm zu sein, sind Ausgrenzung und Stigmatisierung – etwa die Aussage, Menschen in der Grundsicherung seien selber Schuld. Dabei ist die Situation oft nicht so einfach gestrickt, wie sich das viele vorstellen. Ich wünsche mir, dass die Menschen zur Kenntnis nehmen: Jeder Einzelne hat ein Schicksal, dem er nicht ausweichen kann. Menschen in Armut, so meine Erfahrung, werden einfach weggeschoben. Wer kein Geld hat, ist nichts wert. So ist unsere Gesellschaft aufgebaut. Wollen wir das in Zukunft?“
Protokoll: Sarah Spitzer, Redakteurin Text, Diakonie Deutschland
„Bei Armut wird kurz hin- und schnell wieder weggeguckt“
Helga Röller engagiert sich ehrenamtlich politisch, Teilhabe ist ihr wichtig. Sie wünscht sich, dass die Verteilungsgerechtigkeit zunimmt.
„Ich habe kein Problem, offen mit meiner Einkommensarmut umzugehen. Aber der finanzielle Mangel ist bitter. Und zwar nicht, weil ich mir keine Lebensmittel leisten kann, sondern weil es schrecklich ist, dass ich jeden Tag darüber nachdenken muss, wie viel Geld ich noch übrighabe.
Mir ist Geld für Teilhabe, dafür benötige ich Laptop und Telefon, sehr wichtig – besonders, weil ich mich politisch engagiere und beides dafür brauche. Ich verzichte deshalb auf andere Dinge. Viele entscheiden hier anders: Das Nötigste zum Anziehen, zum Essen und für den Haushalt, für mehr reicht es nicht. Eigentlich hätten wir Erwerbslose nach der 3-Euro-Regelsatzerhöhung Anfang 2022 zusammen auf die Straße gehen müssen, aber viele hängen fest darin, über den Monat zu kommen – und seit Jahresbeginn kommt noch die Inflation dazu. Ich habe Angst, dass die Stromkosten durch die Decke gehen und ich noch mehr an anderer Stelle sparen muss. Ehrenamtliche politische Arbeit bedeutet auch Computerzeit, bedeutet Stromverbrauch.
Zu meinem persönlichen Glück habe ich Freunde, die mich unterstützen, und zwar auf eine Art, die meine Selbstachtung nicht verletzt. Sie fragen: ´Brauchst du ein Fachbuch oder Geld für Kopien für dein politisches Engagement?` Mir hilft das sehr.
Wie viele einkommens- und konsumarme Menschen es in diesem Land gibt, wissen alle – da wird aber kurz hin- und schnell wieder weggeguckt. Durch Corona und die Inflation hat die Ungleichheit zugenommen. Armut betrifft nicht mehr nur Erwerbslose, Armutsrentner oder Alleinerziehende, sondern sie ist in der Mittelschicht angekommen. Politisch wird sich deshalb bestimmt endlich etwas bewegen. Ich hoffe sehr, es bleibt nicht bei Einmalzahlungen, die mit großem medialem Lärm angekündigt werden. Natürlich sind 100 Euro verdammt viel Geld. Aber ich wünsche mir, dass der Regelsatz neu berechnet und erhöht wird. Ich wünsche mir, dass Verteilungsgerechtigkeit zunimmt und der soziale Frieden.“
Protokoll: Sarah Spitzer, Redakteurin Text, Diakonie Deutschland
Kontakt
Michael Stiefel
Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung
michael.stiefel@diakonie.de 030 652111325Mehr Informationen zum Beteiligungsprojekt
Kontakt zum Beteiligungsprojekt über beteiligung@diakonie.de
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