Armut und Geschlecht
Statistiken machen deutlich, dass soziale Benachteiligung, Armut und soziale Ausgrenzung in hohem Maße „geschlechtsspezifisch“ bestimmt sind. Woran liegt das? Und welche anderen Befunde gibt es, die geschlechtsspezifische Benachteiligungen beschreiben?
10.12.2024
Wie hängen Armut und Geschlecht zusammen?
Armut oder soziale Ausgrenzung gefährden Menschen in unterschiedlichem Maße. Dies hängt unter anderem von ihrer Lebens- und Familiensituation, ihrer sozialen Herkunft, dem Bildungsstand, der Migrationsgeschichte oder dem Erwerbsstatus ab.
Statistiken machen deutlich, dass soziale Benachteiligung, Armut und soziale Ausgrenzung in hohem Maße „geschlechtsspezifisch“ bzw. „genderspezifisch“ bestimmt sind. Dies zeigt die Auswertung des Mikrozensus für das Erhebungsjahr 2023: So ist das Armutsrisiko von Frauen mit 17,6 Prozent insgesamt größer als das von Männern (15,5 Prozent). Je höher das Lebensalter der Menschen, desto ausgeprägter ist das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Altersarmut steigt zwar insgesamt seit Jahren. 2023 lag das Armutsrisiko von Menschen mit 65 und mehr Lebensjahren bei 18,1 Prozent und damit über dem allgemeinen Durchschnitt von 16,6 Prozent. Allerdings haben Frauen im Alter ein Armutsrisiko von 20,6 Prozent und liegen damit spürbar über dem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt – während Männer im Seniorenalter mit 15,7 Prozent ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko haben.
Was heißt „geschlechtsspezifisch“?
Gender ist die gesellschaftlich geprägte und erlernte Geschlechterrolle: das soziale Geschlecht. Gender beinhaltet Selbstwahrnehmungen und zugleich Rollenverhalten: unter anderem Körperhaltung, Berufsentscheidungen, Verhaltensweisen wie als erste Person das Wort ergreifen oder nicht, Formen persönlicher Dominanz, spezifische Arten von zwischenmenschlicher Vernetzung, Art und Kontext von Lachen oder Kleinsthandlungen wie das tägliche Zubereiten des Schulbrots eines Kindes oder überhaupt die Übernahme familiärer Sorgearbeit können genderspezifisch sein. Im Alltag und in Institutionen begegnen uns kontinuierlich genderspezifische Stereotype und Erwartungen. Das wirkt hinein in Routinen, Regeln und Gesetze. Staatliche Entscheidungen und Strukturen haben aufgrund sozialer Rollenmuster verschiedene Effekte auf Männer, Frauen, trans*, intergeschlechtliche, nicht-binäre, lesbische und schwule Menschen. Genderstereotype, wie die Annahme, dass männlich gelesene Personen „das Geld nach Hause bringen“ oder dass weiblich gelesene Personen „voll Fürsorge die Hausarbeit machen“, begünstigen oder hemmen Erwerbsbiografien. Dies sind Ergebnisse diskriminierender sozialer, kultureller, wirtschaftlicher Entscheidungen. Und das Wichtigste: sie sind wandelbar.
Vorstellungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ haben sich über die Jahrhunderte immer wieder neu ausgeprägt oder weiterentwickelt. So gilt die Farbe Rosa heute als „weiblich“ und wird etwa von der Spielzeugindustrie für „Mädchensachen“ verwendet. Noch in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts galt Rosa aber als besonders männlich und Blau als „Mädchenfarbe“.
Vorstellungen von Berufstätigkeit, von „männlichen“ oder „weiblichen“ Jobs, Einkommensmustern oder typisch „männlichen“ oder „weiblichen“ Lebenswegen sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Während zum Beispiel im Mittelalter Handwerksmeisterinnen in großen Städten ihr Gewerbe selbstbewusst ausübten, galt „Hausfrau und Mutter“ spätestens seit dem 19. Jahrhundert allgemein als das erstrebenswerte weibliche Rollenziel. Auch die Bezahlung und Wertschätzung für bestimmte Berufe änderte sich je nach Klassifizierung als „männlich“ oder „weiblich“. Während etwa „Sekretäre“ bis in die Neuzeit hinein als hochbezahlte „Geheimnisträger“ galten, erfuhr der Beruf eine deutliche Abwertung mit Einführung der Schreibmaschine und Degradierung von „Sekretärinnen“ zu Tipp- und Schreibkräften.
In Westdeutschland setzte sich in den 50er-Jahren ein als „traditionell“ wahrgenommenes Rollenverständnis abschließend als gesellschaftliche Norm durch. Männer galten im familiären Kontext als „Ernährer“, Frauen als Mütter, die ggf. noch etwas „dazu verdienen“. Familienarbeit wurde als unentgeltliche weibliche Arbeit etwa durch das Ehegattensplitting abgesichert, mit dem die Hausfrauenehe steuerlich privilegiert wurde. Bis in die 70er-Jahre galt hier weibliche Erwerbstätigkeit in bürgerlichen Kreisen als ungewöhnlich, die Erwerbstätigkeit von Ehefrauen musste entsprechend der gesetzlichen Regelungen bis 1977 vom Ehemann genehmigt werden.
Hintergrund und Zahlen
Geschlecht, Privilegien, Benachteiligungen
Eine Statistik zu Einkommen, beruflichen Erfolgen, Ausgrenzungserfahrungen oder Armut kann nur als Abbild der Auswirkungen von geschlechtsbezogenen Rollenbildern gelesen werden. Wenn Frauen statistisch gesehen mit einem größeren Armutsrisiko leben, ergibt sich dies aus Rollenzuschreibungen und damit verbundenen Nachteilen, nicht aus dem biologischen Geschlecht oder vermeintlich spezifisch weiblichen angeborenen Eigenschaften.
Ein Beispiel: Wenn Kinderbetreuung als „Frauensache“ gilt und öffentliche Betreuungsangebote fehlen, bedeutet dies eine hohe Hürde für den eigenen wirtschaftlichen und beruflichen Erfolg von Frauen, die diese „weibliche“ Rolle erfüllen. In einer Gesellschaft, die Berufstätigkeit nicht durch Betreuungsmöglichkeiten unterstützt, könnte aber auch ein Mann, der ohne weitere Unterstützung Kinder erzieht, keinen beruflichen oder wirtschaftlichen Erfolg haben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es für durch ihre Geschlechterrolle privilegierte Männer unattraktiv ist, eine unterprivilegierte – vermeintlich „weibliche“ – Rolle einzunehmen.
Auch Männer können die vorgegebenen Geschlechterrollen als problematisch erleben. Eine „Männlichkeit“, die bestimmt sein soll durch Stärke, Macht, Geld, Tapferkeit und verbunden ist mit Homosexuellenfeindlichkeit, Transfeindlichkeit und der Abwertung von Weiblichkeit erleben viele Jungen und Männer als Belastung.
Daher eröffnet die Überwindung geschlechtsspezifischer Benachteiligungsstrukturen allen Menschen mehr Möglichkeiten, ihnen entsprechende und auch diverse Rollen zu entwickeln. Eine geschlechtsbezogene Emanzipation hilft nicht nur, verfestigte Ausgrenzungsstrukturen zu überwinden, sondern ermöglicht allen Menschen eine freiere und selbstbestimmtere Entwicklung.
Ehe, Familie, Politik
Das seit Beginn der Neuzeit immer stärker tradierte Gender-Rollenbild der „klassischen Familie“ ist mit weiteren Faktoren verbunden, die die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen prägen und stabilisieren.
So führt die Trennung von Arbeitsplatz und Familienwohnung sowie von Arbeit und Freizeit zur Notwendigkeit, während der Arbeitszeit Betreuung zu organisieren. In einem mittelalterlichen Handwerks- oder landwirtschaftlichen Betrieb war beides verbunden.
Das lange prägende konservative Idealbild einer lebenslangen heterosexuellen Ehe bedeutet zum einen eine Versorgungs- und Wirtschaftsgemeinschaft, in der sich die Partner ergänzen und voneinander profitieren können. Dieses Arrangement ist aber nur so lange von Vorteil für beide, wie sie sich darüber einig sind, wer welchen Aufgaben und Tätigkeiten in welchem Umfang nachgeht. Das Bild eines „Ernährers“ schreibt die Rolle des Mannes als Haupt- oder Alleinverdiener und die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter fest. Beide Partner sind so in ihren Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt.
Dem entsprechen heute nach wie vor die rechtlichen Regelungen, die mit der Ehe verbunden sind. Nehmen Partner das Ehegattensplitting und die damit verbundenen Steuererleichterungen bei unterschiedlich hoher Erwerbsbeteiligung in Anspruch, gerät meist die Frau in die Rolle der „Zuverdienerin“ mit der ungünstigeren Steuerklasse und der höheren Familienverantwortung. Im Falle einer Trennung können dadurch entstandene langjährige Nachteile in der beruflichen Entwicklung nicht mehr kompensiert werden. Die Unterhaltsverpflichtung des Mannes steht der beruflichen Ausgrenzung der Frau gegenüber.
Besonderes Armutsrisiko von Alleinerziehenden
Ein außerordentlich hohes Armutsrisiko von mehr als einem Drittel haben Alleinerziehende (zu 82 Prozent Frauen). 36,4 Prozent der Alleinerziehenden beziehen Grundsicherungsleistungen.
Getrennterziehende Väter wiederum haben im Falle eines Umgangsrechts kein ausreichendes Recht auf die Finanzierung der damit verbundenen Bedarfe, wenn sie auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. Die geringfügigen Leistungen, die sie bekommen, werden unmittelbar vom Existenzminimum der Alleinerziehenden abgezogen. Je stärker im Falle eines Anspruchs auf Grundsicherung beide Eltern Erziehungsverantwortung wahrnehmen, desto prekärer wird dadurch die finanzielle Situation für beide.
Im Gegensatz dazu ist statistisch gesehen das Armutsrisiko von zusammenlebenden Eltern mit nicht mehr als zwei Kindern im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen am geringsten und liegt bei unter zehn Prozent. Genau in diesen Fällen wirkt die „Familienförderung“ optimal. Trennungen führen dagegen in vielen Fällen unmittelbar und schnell zu sozialer Not. In anderen Familienformen lebende Menschen haben ein hohes Armutsrisiko und erhalten deutlich weniger finanzielle Förderung. Offenbar gibt es eine (weitgehend patriarchal geprägte) „Norm“, die bei Erfüllung meist zu guter Familienförderung führt, während „Abweichungen“ vergleichsweise negative Folgen haben.
Gender Pay Gap
Frauen verdienen im gesamtdeutschen Durchschnitt 18 Prozent weniger als Männer, in Westdeutschland 19 Prozent, in Ostdeutschland sieben Prozent. Dieser unbereinigte Gender Pay Gap ist seit 2002 fast konstant. Die Lohnunterschiede ergeben sich aus gesellschaftlichen genderspezifischen Erwartungen und Strukturen. Frauen machen aufgrund von unbezahlter Familien- und Pflegetätigkeit weniger Karriere. Das zeigt sich wie folgt: sie arbeiten öfter in Teilzeit oder unterbrechen ihre Erwerbsbiografie, in der Folge verschließen sich weitere Aufstiegschancen. Der insgesamt höhere Lohnunterschied liegt laut Institut der Deutschen Wirtschaft zudem daran, dass vermeintliche „Frauenberufe“ schlechter bezahlt werden.
Der bereinigte Gender Pay Gap – also der Lohnunterschied bei direkt vergleichbaren Tätigkeiten – liegt laut Statistischem Bundesamt seit 2014 recht unverändert bei meist sechs Prozent.
Auch in diakonischen Arbeitsfeldern ist der Gender Pay Gap spürbar. Die bestehende Tarifstruktur und Unterschiede in den Berufsbiographien führen zu finanziellen Vorteilen für langjährig beschäftigte Männer. Die schlechtere Bezahlung „weiblicher“ Tätigkeiten ist auch ein Ergebnis der entsprechenden geringeren öffentlichen Refinanzierung dieser Aufgaben.
Berufswahl, Berufsbilder und Wertschätzung
Schon die Berufs- und Ausbildungswahl ist oft von Geschlechterstereotypen geprägt. Jungen streben überwiegend „MINT“- Berufe in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik an, während die „SAGE“-Berufe (Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung) frauendominiert sind. In diesen sozialen Bereichen ist nicht nur die Bezahlung schlechter. Schon die Ausbildung selbst erfolgt meist schulisch ohne Gehalt oder ist sogar mit Gebühren verbunden. Ansprüche in der Altersvorsorge werden in entsprechend geringerem Maße aufgebaut, was in Verbindung mit Teilzeit und Familienphasen zu Altersarmut führen kann.
Mit großem Aufwand betreibt die Bundesregierung Kampagnen, um Mädchen auch für „männliche“ und Jungen für „weibliche“ Berufe zu interessieren. Was dabei kaum thematisiert wird: Die vermeintlich „weiblichen“ Tätigkeitsfelder sind nicht „schlechter“. Es gibt nicht zu viele Verkäuferinnen, Erzieherinnen oder Sozialarbeiterinnen. In vielen der entsprechenden Berufsfelder herrscht ausgesprochener Personalmangel. Dieser ist aber auch Folge der fehlenden finanziellen Wertschätzung, die diese Berufe erfahren. Hier ist die Tarifbindung eher geringer, Bezahlung und Aufstiegschancen sind schlechter.
Um eine Tätigkeit in bestimmten Berufsfeldern aufzuwerten, muss neben dem Durchbrechen stereotyper Rollenmuster auch die finanzielle Attraktivität der Berufsfelder im Blick sein. So sind Pflegerinnen und Erzieherinnen nicht schlecht bezahlt, weil die Berufe weniger qualifiziert oder notwendig wären. Die schlechte Bezahlung ist Ergebnis gesellschaftlicher Abwertung und der über Jahrzehnte tradierten Erwartung, dass etwa „Krankenschwestern“ oder „Kindergärtnerinnen“ alleinstehend sind, nur bis zur Hochzeit arbeiten oder aber aus höheren Idealen eine Tätigkeit mit Menschen „für Gotteslohn“ anstrebten.
„Systemrelevante Berufe“
Im Zuge der Corona-Krise galten plötzlich die schlecht bezahlten Tätigkeitsfelder Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung genauso als systemrelevant wie die oft in Teilzeit und mit schlechter Bezahlung verbundenen Arbeitsstellen im Einzelhandel.
Diese Problematik fasst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wie folgt zusammen: „Die Mehrheit der als systemrelevant definierten Berufe weist jedoch außerhalb von Krisenzeiten ein geringes gesellschaftliches Ansehen und eine unterdurchschnittliche Bezahlung auf. Der Frauenanteil ist hingegen überdurchschnittlich. (…) Die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Unverzichtbarkeit und tatsächlicher Entlohnung ist in Krisenzeiten besonders offensichtlich. Deshalb sollten auf kollektive Dankbarkeit konkrete Maßnahmen folgen, wie eine höhere Entlohnung und eine breitere tarifvertragliche Absicherung.“
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf ist seit Jahren drängendes politisches Thema. So wurden und werden Ganztagsbetreuungsplätze ausgebaut und Rechtsansprüche geschaffen. Während der Corona-Kontaktbeschränkungen wurde jedoch sichtbar, was passiert, wenn davon ausgegangen wird, dass Eltern weiterhin Vollzeit arbeiten und zugleich Kinderbetreuung leisten können – oder aber beruflich aussetzen, etwa über das erweiterte Kinderkrankengeld. So hat die Familienarbeit von Müttern und Vätern während der Schließung der Kindertageseinrichtungen und Schulen deutlich zugenommen. Überwiegend für die Mütter wurde die Haus- und Familienarbeit zum Fulltime-Job.. Folge der Corona-Krise ist so eine neuerliche und weitere Zementierung von Geschlechterrollen.
Gleichwohl überzeugt ein Familienmodell, bei dem er in Vollzeit, sie in Teilzeit arbeitet, immer weniger Eltern. Mütter und Väter wünschen sich eine partnerschaftliche Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit. So erzielt laut des Bundesfamilienministeriums mehr als zwei Drittel der erwerbstätigen Mütter ein Einkommen, mit dem sie sich materiell absichern können. Knapp einem Drittel gelingt dies jedoch nicht.
Auch die Elterngeldregelungen setzen Anreize, die eher patriarchal geprägte Geschlechterrollen verfestigen. Wo der männliche Partner mehr verdient, ist es für diesen weniger attraktiv, Elternzeit zu nehmen. Die finanziellen Verluste sind größer als in der Elternzeit der Partnerin. Noch immer nehmen die meisten Männer keine Elternzeit. Wenn doch, sind zwei Vätermonate die Regel und mehrmonatige Elternzeiten durch Väter die Ausnahme. So berichtet das statische Bundesamt: Im Jahr 2023 waren fast ein Viertel aller Mütter, deren jüngstes Kind unter sechs Jahren ist, in Elternzeit. Unter den Vätern traf dies nur auf 1,8 Prozent zu.
Aber auch das Ideal einer Vollzeit-Kinderbetreuung stößt an seine Grenzen. Familien brauchen Zeit. Ein Familienleben, das erst ab 18:00 Uhr stattfindet und morgens um 7:00 Uhr endet, ist oft hochgradig konfliktbelastet. Deswegen wählen viele Familien Arbeitszeitmodelle, die eine Vollzeitarbeit für beide Eltern vermeiden. Familien-Arbeitszeitmodelle, bei denen aber beide vollzeitnah arbeiten, wie dies zum Beispiel die ehemalige Familienministerin Manuela Schwesig vorschlug, sind wenig verbreitet und gefördert. Sie würden die Hürde zu einer gerechteren und einvernehmlicheren Aufteilung von Familienarbeit zwischen Eltern aber deutlich senken.
Darüber hinaus können Betreuungszeiten nicht statisch definiert werden. Ist ein Kind krank, wird es von keiner Kita betreut. Arbeiten Eltern im Schichtdienst, können sie sich nicht an fixe Öffnungszeiten halten. Darum benötigen viele Eltern flexible und anpassungsfähige Betreuungs- und Arbeitszeitmodelle.
Existenzsicherung
Insgesamt haben viele Frauen keinen Leistungsanspruch, da sie als Teil einer Bedarfsgemeinschaft mit einem mehr verdienenden Partner hierdurch die Anspruchsgrenze überschreiten. Es ist also nicht überraschend, dass weniger erwerbslose Frauen (47 Prozent) als Männer (53 Prozent) Grundsicherungsleistungen beziehen. Bei den Langzeit-Leistungsbeziehenden ist der Frauen-Anteil mit 47 Prozent gleichbleibend und weiterhin unter dem der Männer (51 Prozent). Beim „Heranzoomen“ eröffnen sich jedoch gegenläufige Einblicke zur Geschlechterverteilung, dazu im Folgenden mehr.
Arbeitsförderung
Die Sozialwissenschaftlerinnen Karen Jaehrling und Clarissa Rudolph wiesen 2010 nach, dass Leistungen der Arbeitsförderung sich sehr stark am Ziel der Arbeitsvermittler für einen „Ernährer“ ausrichteten und Frauen mit Kindern deutlich schlechtere Fördermöglichkeiten hatten.
Infolge der Veröffentlichung gab es Bemühungen der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsförderungsmaßnahmen geschlechtergerechter auszurichten, etwa, in dem für Alleinerziehende auch weniger starre Maßnahmenumfänge angeboten wurden. Die Unterrepräsentation von Frauen bleibt jedoch bei vielen Maßnahmen bestehen und setzt sich auch beim neu geschaffenen Regelinstrument der öffentlich geförderten Beschäftigung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§16i SGB II) fort.
Es gibt immer noch starke Hinweise darauf, dass die Förderung der Erwerbsbeteiligung wenig zur Lebensrealität von Erziehenden passt. Dies liegt auch an der weiterhin gegebenen Fixierung der Grundsicherungsleistungen auf schnelle Arbeitsvermittlung bzw. Verlassen des Leistungsbezuges. Differenzierte Angebote, die sich vor allem an Teilhabe an Arbeit orientieren, ohne die ganze Lebenssituation zu dominieren, fehlen. Dies führt oft zu widersprüchlichen und insgesamt wenig hilfreichen Resultaten. So erleben nach Berichten aus diakonischen Beratungsstellen junge Mütter, dass sie während der ersten drei Lebensjahre ihres Kindes keinerlei Förderangebote erhalten, während andernorts noch Hochschwangere mit Sanktionsdrohungen auf Bewerbungen oder Maßnahmenteilnahme verpflichtet werden.
Prekäre Beschäftigung
Von prekärer Beschäftigung besonders betroffen sind Mütter. Der Spagat zwischen Familie und Beruf führt oft dazu, dass Mütter geringfügige, schlecht bezahlte und wenig abgesicherte Stellen und Minijobs übernehmen. Diese dienen dem Zuverdienst zum Familieneinkommen oder zur Grundsicherung. Prekär und geringfügig Beschäftigte sind in der Krise aber auch die ersten, die freigesetzt werden bzw. werden können. So wies die Hans-Böckler-Stiftung für die Zeit der Corona-Krise seit 2020 nach, dass insbesondere Minijobs schnell abgebaut wurden.
Besondere Armutsrisiken
Geschlechtsbezogene Armutsrisiken kumulieren in bestimmten Lebenssituationen und -lagen. Einige davon werden hier beispielhaft thematisiert:
Alter
Der Mikrozensus (2023) zeigt: Das Armutsrisiko von Frauen (17,6 Prozent) ist in allen Altersgruppen höher als das von Männern (15,5 Prozent). Zwischen den Jahren 2005 und 2023 hat sich die Armutsgefährdungsquote der ab 65-Jährigen von 11,0 Prozent auf 18,1 Prozent erhöht.Altersarmut nimmt insgesamt zu, betrifft aber im überdurchschnittlichen Maße Frauen (20,6 Prozent) und weniger Männer (15,7 Prozent).
Im Vergleich von 26 OECD-Ländern haben Frauen um 25 Prozent niedrigere Alterseinkommen als Männer. In Deutschland ist diese Lücke mit 46 Prozent deutlich größer. Dies liegt vor allem an niedrigeren Rentenansprüchen aufgrund von Teilzeit oder familiär bedingten Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit sowie an der durchschnittlich schlechteren Bezahlung von Frauen, da die Rentenansprüche in Deutschland sehr stark von Beitragszahlungen abhängen (Äquivalenzprinzip). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sieht insbesondere einen hohen Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Arbeitsmarktes und den Rentenansprüchen: „Gender Pension Gaps hängen signifikant mit geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Erwerbstätigenquote und Teilzeitbeschäftigung zusammen“.
Alleinerziehende
Alleinerziehende sind die am stärksten von Armut betroffene Familienform. Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden (41 Prozent; Mikrozensus 2023) ist mehr als doppelt so hoch, wie im gesellschaftlichen Durchschnitt (16,6 Prozent).
Die Situation lässt sich beschreiben wie folgt: Ungefähr jedes fünfte Kind wächst mit einer alleinerziehenden Mutter oder einem alleinerziehenden Vater auf. 82 Prozent der alleinerziehenden Eltern sind Frauen. In 2023 waren 71,4 Prozent der alleinerziehenden Mütter berufstägig, davon 41,4 Prozent in Vollzeit. In 2024 waren 36,4 Prozent der Haushalte von Ein-Eltern-Familien auf SGB II-Leistungen angewiesen.
In den Statistiken nicht erfasst ist die Elterneigenschaft bei denjenigen, deren Wohnung nicht als „Hauptwohnsitz“ des Kindes gilt. Es ist davon auszugehen, dass ein spürbarer Teil der statistisch als „alleinstehend“ erfassten durchaus Kinder haben. Die genannte Gruppe lebt ebenfalls mit einem deutlich überdurchschnittlichen Armutsrisiko.
Kinder sind mit ihren Familien arm. Das Pro-Kopf-Einkommen in Ein-Eltern-Familien ist um 20 Prozent geringer als in Paarfamilien. Im Jahr 2018 hatten alleinerziehende Familien durchschnittlich weniger als 1.700 Euro monatlich zur Verfügung. Die Mütter sind überwiegend – trotz guter Berufsausbildung – in schlecht bezahlten Berufsfeldern tätig.
Alleinerziehende, unverheiratete Personen sind gegenüber Verheirateten mit und ohne Kinder im Steuerrecht benachteiligt. Wenn Alleinerziehende die Steuerklasse II wählen können, wird zwar jährlich automatisch ein Steuerentlastungsbetrag berücksichtigt (4.260 Euro für das erste Kind ab dem zweiten Kind erhöht sich der Entlastungsbetrag je um 240 Euro). An die maximalen Steuerersparnisse des Ehegattensplittings kommt das allerdings nicht heran, diese liegen über viermal so hoch. Gehen bisher Alleinerziehende eine neue Partnerschaft ein, ohne zu heiraten, verlieren sie jeglichen Steuervorteil. Ehepaare mit oder ohne Kinder können dagegen ihre Gesamteinkünfte durch das Ehegattensplitting zunächst rechnerisch auf beide Partner verteilen und dann versteuern. Hierdurch kann fast 19.000 Euro Steuervorteil im Jahr erreicht werden.
Alleinerziehenden bleibt in der Regel das Kindergeld; dieses wird allerdings, falls der andere Elternteil nicht zahlt oder nicht zahlen kann, beim staatlichen Unterhaltsvorschuss vollständig auf den zustehenden Mindestunterhalt angerechnet. Circa die Hälfte der barunterhaltspflichtigen zahlen keinen oder können keinen Unterhalt zahlen.
Wenn beide Elternteile nach der Trennung die Erziehungsarbeit gemeinschaftlich schultern, vergrößert sich die finanzielle Lücke, denn dann wird mehr Geld benötigt. Das Kind braucht teils doppelte Ausstattungen. Die Größe des Wohnraums, Bett, Kleidung und Spielzeug können nicht stetig mit dem Nachwuchs die Orte wechseln. Hilfen zur Überwindung von Kinderarmut müssen also zukünftig in den Blick nehmen, dass Kinder nicht nur einen Elternteil haben, der als alleinerziehend gilt, sondern jede Beteiligung an der Erziehung und Betreuung der Kinder Unterstützung finden müssen.
Bildung
Das Schulsystem stellt Jungen, die sich an „männlichen“ Rollenvorstellungen orientieren, verbunden mit einem herausfordernden Verhalten, vor große Probleme. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt in Grundschulen, an denen mehrheitlich Frauen als Lehrerinnen arbeiten, die selbst wiederum schlechter als an anderen Schulformen bezahlt werden. Eher „weibliche“ soziale Kompetenzen und kooperative Lernformen sind die schulische Norm. Im Ergebnis bekommen Mädchen oft bessere Noten und Schulabschlüsse.
Dennoch geraten sie im weiteren Lebensverlauf ins Hintertreffen. Die Berufswahl, familiäre Vorstellungen über ihre weitere Entwicklung, Familienpausen und Pflegearbeit erschweren die weitere Qualifikation und das berufliche Fortkommen. Dass das Problem im gesellschaftlichen und rechtlichen System liegt, wird bei hoher Qualifikation besonders sichtbar: so sticht ins Auge, dass Frauen gerade dann im Vergleich zu Männern vermehrt Grundleistungen beziehen, wenn sie hochqualifizierte Akademikerinnen (56 Prozent) sind, (männliche Akademiker liegen im Vergleich nur bei 44 Prozent). Bei allen anderen Berufsabschlüssen ist der Wert der Frauen niedriger als der der Männer.
Gewalt
Gewalt findet nicht im luftleeren Raum statt. Unter der Bezeichnung Hasskriminalität wertet das Bundesinnenministerium jährlich Fallzahlen zur Politisch motivierten Kriminalität aus. Darunter gefasst sind Fälle von Frauenfeindlichkeit, Männerfeindlichkeit und Fälle gegen geschlechtsbezogene Diversität. Die bundesweiten Fallzahlen zeigen im Themenfeld Frauenfeindlichkeit einen Anstieg um über 55 Prozent von 2022 auf 2023. Im gleichen Zeitraum sind die Fallzahlen im Themenfeld Männerfeindlichkeit um über 13 Prozent gesunken. Das Themenfeld geschlechtsbezogene Diversität verzeichnet sogar einen Anstieg um über 100 Prozent. Hasskriminalität steht für Straftaten, die durch gruppenbezogene Vorurteile motiviert begangen werden.
Gewalt gegen Frauen ist ein Massenphänomen, so gibt das neue und erste Bundeslagebild – Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2024 Auskunft darüber, dass 2023 in Deutschland alle drei Minuten eine Frau häusliche Gewalt erlebte und fast jeden Tag eine Frau von ihrem Expartner getötet wurde. „Die Ergebnisse des Lagebildes zeigen, dass Gewalt an Frauen – ebenso wie die Gewaltkriminalität insgesamt – weiterhin ansteigt. Eine Erklärung für den Ursprung dieser Gewalt und dem deutlichen Erstarken von einstellungsbezogener Hasskriminalität liegt in einer Ideologie der Ablehnung von Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit der Geschlechter. (…) Verstärkt wird dies durch den fortschreitenden gesellschaftlichen Wandel bezüglich Gleichberechtigung, welchen Menschen, die rigide an traditionellen Normen festhalten, als bedrohlich empfinden“. Der Gleichstellungsbericht von 2017 gibt Auskunft über Gewalt im Lebensverlauf: „37 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben in ihrem Erwachsenenleben mindestens einmal körperliche und/oder sexualisierte Übergriffe erlebt; etwa jede siebte in Deutschland lebende Frau musste seit ihrem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante sexuelle Gewalt erleiden. (…) Von unterschiedlichen Formen geschlechtsbezogener Belästigung im öffentlichen und privaten Raum sowie in Arbeitskontexten berichten fast 60 Prozent der Frauen.“
Für das Jahr 2023 meldete das Bundeskriminalamt im jährlichen Lagebild Häusliche Gewalt einen Anstieg der partnerschaftlichen Gewalt um 6,4 Prozent. Es handelt sich um 167.865 Opfer. In 79,2 Prozent der Fälle waren die Opfer Frauen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich wesentlich höher. Die Auswirkungen sind häufig gravierend und reichen von gesundheitlichen wie körperliche Verletzungen oder psychosomatische Beschwerden über soziale und ökonomische Folgen. Partnerschaftsgewalt ist kein schichtenspezifisches Problem, aber verbunden mit einem Armutsrisiko. Sehr deutlich zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Häuslicher Gewalt und Erwerbstätigkeit durch häufige und lange Krankenstände oder Arbeitsunfähigkeit. Wird Schutz in einem Frauenhaus gesucht, ist dies nicht selten verbunden mit dem Verlust der Wohnung und des Arbeitsplatzes. Hinzu kommt, dass je nach Finanzierungsart des Frauenhauses die Betroffene die Unterstützungsleistungen (teilweise) selbst finanzieren muss.
Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit betrifft Menschen je nach Geschlecht und sexueller Orientierung auf jeweils besondere Weise. Die Mehrzahl wohnungsloser Männer ist alleinlebend. Vielen fällt es schwer, frühzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch Trennungen können zu Wohnungslosigkeit führen. Männer, die die gemeinsame Wohnung verlassen mussten und gewohnt sind, dass ihre Partnerin die Sorgearbeit für die Familie und schließlich auch ihren Partner übernimmt, können sich nach Trennungen oft nur schwer selbst helfen.
Nach den Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) waren zum Stichtag 30.06.2022 in Deutschland 447.000 Menschen wohnungslos. Unter den erwachsenen wohnungslosen Menschen waren durchschnittlich 58 Prozent männlich und 42 Prozent weiblich. Das Geschlechterverhältnis unter wohnungslosen Personen zeigt signifikante Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Bei den deutschen volljährigen Wohnungslosen sind 72 Prozent männlich und 28 Prozent weiblich. Im Gegensatz dazu ist das Geschlechterverhältnis bei den nicht-deutschen Personen ausgewogen, mit jeweils 50 Prozent männlich und 50 Prozent weiblich. Kinder oder Jugendliche machen 26 Prozent aller wohnungslosen Personen aus.
Der Anteil an Frauen unter den wohnungslosen Menschen nimmt insgesamt zu. Besonders unter den jungen Menschen in Wohnungsnot finden sich mehr Frauen. Bei den unter 25-Jährigen sind 20,4 Prozent weiblich und 14,7 Prozent männlich.
Die Anzahl der untergebrachten wohnungslosen Personen lag nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zum Stichtag 31.01.2024 bei 439.500 Personen: 55 Prozent der untergebrachten wohnungslosen Personen waren Männer, etwa 43 Prozent Frauen, mit „unbekannt“ wurde das Geschlecht in zwei Prozent der Fälle angegeben. Der Anteil verdeckt wohnungsloser Personen, auch verdeckt wohnungsloser Frauen, wird nicht vom System erfasst. Statistisch nachweisbar ist: der dokumentierte Anteil von Männern wird umso größer, je härter die Lebenssituation ist.
Im Bereich der geschlechtsspezifischen Ausrichtung von Hilfen und entsprechender öffentlicher Förderung gibt es weiterhin Nachholbedarf. So richten sich viele Hilfen an Männer, ohne auf Männer ausgerichtet zu sein, einen Blick auf deren Rollenverständnis zu haben oder die damit verbundene Problematik aufarbeiten zu können. Zugleich fehlen spezifische Hilfen für Frauen und auch für queere Menschen, die ihnen besondere Schutzräume bieten. Die Wohnungslosigkeit von Frauen steht oft mit Gewalterfahrungen in Zusammenhang. Auch Angebote für Wohnungslose mit Kindern fehlen.
Zudem ist davon auszugehen, dass die Hilfebedarfe von wohnungslosen Frauen oft nicht erkannt werden. Hierzu schreibt die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz: „Die Anzahl ist schwer zu erheben, weil Frauen seltener auf der Straße leben, sondern versuchen, bei Freundinnen oder in neuen Zweckbeziehungen Unterschlupf zu finden, was oft neue Probleme mit sich bringt.“
Zur Verbesserung der Situation wohnungsloser Frauen liegen Positionspapiere der BAG-W vor. Auch die Diakonie hat umfassende Vorschläge erarbeitet und setzt diese in besonderen Angeboten um. Frauen suchen nach den Erfahrungen der BAG-W frühzeitig Hilfen und sind für präventive Angebote gut erreichbar. Diese sollten demnach ausgebaut werden. Auch eine geschlechtsspezifische Wohnungsnotfallberichterstattung ist nach Ansicht der Diakonie nötig.
Haftstrafen
Haftstrafen haben ein hohes Armutsrisiko zur Folge. Die soziale Reintegration im Anschluss ist nicht einfach. Haftstrafen treffen zu einem großen Teil Männer und sind oft Folge von „männlichem“ herausforderndem bis gewalttätigem Verhalten.
Am 31.03.2023, dem Stichtag der Strafvollzugsstatistik, waren insgesamt 44.232 Personen in Strafgefangenschaft und Sicherheitsverwahrung, davon 2.590 Frauen und 41.642 Männer. Nur sechs Prozent aller Insassen von Haftanstalten sind Frauen. Von den strafgefangenen und sicherungsverwahrten Personen sind 94 Prozent Männer. Im Jahr 2022 machten Männer bei einer Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren 97 Prozent aus, bei einer lebenslangen Haftstrafe 94 Prozent, bei 5 bis 15 Jahren Haftstrafe 95,5 Prozent.
Inhaftierte Frauen sind oft selbst von Kindheit an Gewaltopfer. Sie haben viermal so oft körperliche und sechsmal so oft sexualisierte Gewalt erlebt wie andere Frauen. Oft fehlen ihnen ein Schul- oder Berufsabschluss. Im Gefängnisalltag sind sie „eine Randgruppe innerhalb der Randgruppe“ der Inhaftierten. Ihre Stigmatisierung ist weit gravierender als die von inhaftierten Männern.
Bewertung und Vorschläge der Diakonie
Alle Menschen sollen selbst bestimmen können, welche Rollen sie einnehmen möchten. Soziale Rollen sind nicht „weiblich“ oder „männlich“. Diese Zuschreibungen sind Ergebnis diskriminierender Traditionen.
Dementsprechend müssen das Sozialsystem und die Familienpolitik im Sinne eines „Gender Mainstreaming“ im Zusammenwirken mit einem „Armuts-Mainstreaming“ weiterentwickelt werden. Fragen geschlechtsbezogener Diskriminierungen müssen unmittelbar benannt und aufgearbeitet werden.
Dabei ist auch das Eheverständnis zu hinterfragen. Die Ehe kann eine Solidargemeinschaft sein, die die Entwicklungsmöglichkeiten der Eheleute stärkt. Eherechtliche Regelungen, die dagegen Fehlanreize setzen, die berufliche oder persönliche Entwicklung ungleich auszugestalten, müssen überwunden werden. Familien- und Pflegearbeit sollen sozialrechtlich und in der Sozialversicherung besser berücksichtigt werden.
Die Überwindung der prekären Situation vieler Alleinerziehender und ihrer Kinder muss ein zentrales Anliegen der Familienpolitik werden. Trennungen sollen nicht vorrangig im Grundsicherungssystem teilkompensiert werden, sondern die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts muss Ziel der Familienpolitik sein. Umgang und gemeinsame Erziehung getrennt lebender Eltern müssen so geregelt werden, dass der insgesamt höhere Bedarf von Kindern getrennt lebender Eltern anerkannt wird.
Die finanzielle Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt muss ein Ende haben. Weiblich geprägte Berufsfelder sind neu zu bewerten und besser zu bezahlen, Zugänge zu Berufsfeldern für alle Geschlechter gleichermaßen attraktiv zu gestalten. Hier hat auch die Diakonie in ihren eigenen Einrichtungen eine wichtige Gleichstellungsaufgabe.
Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen besser gelöst werden. Flexible Arbeitszeitmodelle sollen Familien angeboten und umgesetzt werden. Insbesondere die Möglichkeiten vollzeitnaher Teilzeit sind weiterzuentwickeln und besser zu fördern. Betreuung muss die Lebensrealität abbilden, auch bei Krankheit der Kinder oder in Randzeiten.
Die Leistungen der Existenzsicherung sind umfassend auf ihre geschlechtsspezifischen Auswirkungen hin zu überprüfen. Die geltenden Regelungen zur Bedarfsgemeinschaft führen dazu, dass Frauen schlechter Leistungsansprüche erreichen können. Auch die Arbeitsförderung muss sich stärker an den Lebenslagen von Frauen und Erziehenden orientieren.
Altersarmut ist oft Ergebnis von geschlechtsspezifischer Benachteiligung im Erwerbsalter und daraus folgenden geringen Ansprüchen in den Alterssicherungssystemen. Die Diakonie Deutschland setzt sich für ein System der Mindestrente ein, das den Erwerb jeglicher, auch geringer, Rentenansprüche fördert und Abbruchkanten bei längerer oder höherer Beitragszahlung vermeidet.
Der Schutz vor Gewalt und Wohnungslosigkeit muss die damit verbundenen spezifischen Rollenerfahrungen von Männern und Frauen berücksichtigen. Hilfeangebote sollen eine Emanzipation von Rollenvorstellungen fördern, die Hilfebedürftigkeit auslösen oder verstärken. Dies muss auch Gegenstand entsprechender Förderprogramme sein. Die Schutzbedürftigkeit von Frauen mit Gewalterfahrung muss immer Vorrang vor Einsparungen und Modellen der finanziellen Selbstbeteiligung haben.
Text: Diakonie/ Frieda Wittenborn
Redaktion: Diakonie/Sarah Spitzer
Weitere Informationen zu Armut und Geschlecht
Kontakt
Frieda Wittenborn
Gendergerechte Ansätze in der Sozialpolitik und Sozialen Arbeit
frieda.wittenborn@diakonie.de 030 652111133